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KONTEXT


Anlässlich des Todes des deutschen Außenministers a.D. Hans-Dietrich Genscher würdigte André Poggenburg dessen Wirken, schloss davon aber Genschers Einsatz für die EU aus: Die EU habe sich seiner Ansicht nach „zu einem sozialistischen Scheingebilde und einer Diktatur aus Brüssel“ entwickelt.

Als deutscher Außenminister prägte Genscher zwischen 1974 und 1992 die deutsche Europapolitik. Insbesondere die Genscher-Colombo-Initiative von 1981, aus der die Einheitliche Europäische Akte hervorging2, steht stellvertretend für sein Bestreben, den europäischen Integrationsprozess voranzutreiben. Er setzte sich u. a. für die Wirtschafts- und Währungsunion, den Ausgleich zwischen Ost- und Westmächten und die Gründung der Europäischen Union durch den Maastrichter Vertrag (1992) ein, mit dem die damaligen Europäischen Gemeinschaften (EG) zu einer politischen Union mit enger Zusammenarbeit ausgebaut wurden.3

FAKTENCHECK


Definition von Diktatur: Ausgehend von den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts wird heute ein Diktaturbegriff verwendet, der Formen unbegrenzter Machtentfaltung impliziert und damit im Gegensatz zum liberal demokratischen Verfassungsstaat steht.4  Diktatur bezeichnet die „Herrschaft einer Person, Gruppe, Partei oder Klasse, die die Macht im Staat monopolisiert hat und sie unbeschränkt (oder ohne große Einschränkung) ausübt.“5  Die staatliche Gewalt geht demnach nicht von den BürgerInnen aus, wie es in Demokratien der Fall ist. Vor allem fehlen in Diktaturen das demokratische Prinzip der Herrschaftsbegrenzung bzw. Gewaltenkontrolle („checks and balances“) sowie eine Rechtsgarantie für universelle und unveräußerliche Grundrechte, welche die Menschen vor staatlichen Übergriffen schützt.6

Abb. 1: Merkmale von Demokratie und Diktatur im Vergleich (Eigene Darstellung)

Volkssouveränität: Das Prinzip der Volkssouveränität gilt in fast allen EU-Staaten7 und ist auch für die Ausgestaltung des politischen Systems der EU wesentlich: Die wahlberechtigten UnionsbürgerInnen wählen das Europäische Parlament direkt, während die Zusammensetzung des Rats der EU als zweite legislative Kammer indirekt über die jeweiligen nationalen Parlaments- oder Präsidentenwahlen bestimmt wird.8 Die Europäische Kommission (Exekutive) wird nach jeder Europawahl neu besetzt, wobei das EU-Parlament dem/der vom Europäischen Rat vorgeschlagenen KandidatIn für das Amt des/der Kommissionspräsidenten/in sowie der designierten Kommission in Gänze zustimmen muss.9  Diese dualen Legitimationsketten (direkt und indirekt) ergeben sich aus der Natur der EU als ein Staatenverbund mit intergouvermentalen und supranationalen Elementen.

“Checks and balances“: Die verschiedenen Organe der EU sind institutionell so miteinander verschränkt, dass die verschiedenen Gewalten (Legislative, Exekutive, Judikative) und unterschiedlichen Regierungsebenen (europäisch, national) sich gegenseitig kontrollieren können. Die Kommission verfügt nur formell über das Initiativrecht, beschließt die Rechtsakte aber nie alleine, sondern ist dabei auf die gesetzgebenden Institutionen (Parlament und Rat) angewiesen (à Factsheet EU-Regulierung). Generell wird nichts gegen den Willen des Rates der EU entschieden, der in der Regel im Konsens aller Mitgliedstaaten und nur selten mit einer Stimmenmehrheit einzelner Staaten Entscheidungen trifft.

Freie Wahlen: Das EU-Parlament wird in allgemeinen, freien, geheimen und unmittelbaren Wahlen durch die UnionsbürgerInnen der Mitgliedstaaten gewählt. Bei der Besetzung des Parlaments wird eine Art Minderheitenschutz garantiert, indem kleinere EU-Staaten überproportional viele Abgeordnete entsenden, da bei rein proportionaler Sitzverteilung große Mitgliedstaaten wie Deutschland die kleineren Länder leicht überstimmen könnten.10 Der Gleichheitsgrundsatz („one man, one vote“) wird dabei zugunsten eines in konsensorientierten Demokratien üblichen Minderheitenschutzes aufgeweicht.

Pluralismus: Im Pluralismus konkurrieren verschiedene gesellschaftliche Gruppen und Organisationen um gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Teilhabe.11  In der EU werden neben einem ausgeprägten Parteienpluralismus, der beispielsweise in den Fraktionen im Europäischen Parlament organisiert ist, auch weitere Akteure in ihrer Teilhabe an den politischen Prozessen der EU gefördert. Hierzu zählen u. a. die beratenden EU-Organe „Ausschuss der Regionen“, der die Interessen der regionalen und lokalen Gebietskörperschaften vertritt,12 und „Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss“, der aus sozialen und wirtschaftlichen Interessenvertretern besteht.13

Rechtsstaatlichkeit: Die EU ist vornehmlich eine Rechtsordnung, in der die Mitgliedstaaten den EUV und den AEUV als Vertragsgrundlage anerkennen. Folglich verpflichten sie sich, „zum Schutz ihrer Bürgerinnen und Bürger“14  zu agieren und die Werte „der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und […] Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören“15, zu wahren. Die EU verfügt über ein verfassungsähnliches Vertragswerk, bei dem aber die Staaten Inhaber der Kompetenz-Kompetenz bleiben (Factsheet Zuständigkeiten).

Garantierte Menschenrechte: Sämtliche Mitgliedstaaten haben die EU-Grundrechtecharta und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ratifiziert.16  Aus dem elementaren Recht auf die Unantastbarkeit der Würde des Menschen ergibt sich eine Vielzahl weiterer Grundrechte wie beispielsweise die Meinungs- und Pressefreiheit.17 So zählt Europa zu den verhältnismäßig wenigen Regionen weltweit, wo JournalistInnen vollständig frei und unabhängig arbeiten können.18 Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) macht sich dabei für die Wahrung der Grundrechte der UnionsbürgerInnen stark.

Unabhängige Justiz: Art. 19 EUV schafft die Grundlage für eine unabhängige Justiz. Der EuGH hat als oberstes Organ der europäischen Rechtsprechung „die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge“ zur Aufgabe.19 Er verfügt mit der Nichtigkeitsklage nach Art. 263 und 264 AEUV auch über eine Kontrollfunktion gegenüber den Tätigkeiten der EU-Organe. Durch diese Artikel können auch Privatpersonen gegen an sie gerichtete oder sie unmittelbar und individuell betreffende Handlungen Klage erheben.20

Gewaltmonopol bei den Mitgliedstaaten: Die Union ist bei der Durchsetzung von EU-Recht auf die Mitgliedstaaten angewiesen, die über sämtliche geheimdienstliche, polizeiliche und militärische Mittel verfügen. Sogar bei einer Vertragsverletzung eines Mitgliedstaates obliegt es dem Staat – sogar im Falle einer Verurteilung durch den EuGH – den Verstoß gegen EU-Recht durch innerstaatliche Politik zu korrigieren.21 Gerade das Brexit-Beispiel zeigt, dass die Mitgliedstaaten der EU freiwillig angehören und, anders als in diktatorischen Systemen wie der ehemaligen UdSSR, eigenmächtig aus der Union ausscheiden können. Letztendlich liegt die staatliche Gewalt bei den Mitgliedstaaten, nicht bei den EU-Organen.


Auf die EU treffen zahlreiche Merkmale einer repräsentativen Demokratie und nicht jene einer Diktatur zu. Die EU stellt ein System sui generis dar, da sie sowohl intergouvernementale als auch supranationale Elemente in sich vereint, wobei die Mitgliedstaaten die wesentlichen Träger der politischen Ordnung bleiben. Die europaskeptische Bezeichnung der EU als Diktatur ist angesichts dessen nicht nur vollkommen falsch, sondern verharmlost darüber hinaus historische und zeitgenössische reale Diktaturen.

Mit unangemessenen Sprachbildern wie „sozialistische(s) Scheingebilde“ rückt Poggenburg die EU nicht nur in die Nähe von Unrechtsregimen wie der ehemaligen UdSSR, sondern spricht ihr jedwede Legitimität ab.

Damit konterkariert Poggenburg das Wirken Genschers, das er eigentlich zu würdigen vorgibt. Genscher hatte sich Zeit seines Lebens vor allem für die Überwindung der Teilung Europas eingesetzt22 und die Ostpolitik Willy Brandts zur Annäherung an Mittel- und Osteuropa wesentlich mitgeprägt.

Wo finde ich diese Informationen?

1 Pressemitteilung der AfD: Poggenburg: Ein großer Deutscher ist gegangen, 1.4.2016, https://www.alternativefuer.de/poggenburg-ein-grosser-deutscher-ist-gegangen/ (letzter Zugriff: 1.3.2017).

2 Rudolf Hrbek: Genscher-Colombo-Initiative, in: Martin Große Hüttmann/Hans-Georg Wehling (Hg.): Das Europalexikon, 2., aktual. Aufl. Bonn: Dietz 2013, http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/177014/genscher-colombo-initiative (letzter Zugriff: 27.3.2017).

3 Bundeszentrale für politische Bildung: 20 Jahre Vertrag von Maastrich, 31.10.2013, https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/171540/20-jahre-vertrag-von-maastricht-31-10-2013 (letzter Zugriff: 27.3.2017).

4 Jan C. Behrend: Politische Führung in der Diktatur, 22.12.2009, http://www.bpb.de/apuz/33035/politische-fuehrung-in-der-diktatur?p=all (letzter Zugriff: 3.3.2017).

5 Rainer-Olaf Schultze: Diktatur, in: Dieter Nohlen/Florian Grotz (Hg.): Kleines Lexikon der Politik, 5. Aufl. Nördlingen: C.H. Beck 2011, S. 99-101.

6 Frank Decker: Die populistische Herausforderung. Theoretische und ländervergleichende Perspektiven, in: Frank Decker (Hg.): Populismus. Gefahr für die Demokratie oder nützliches Korrektiv, VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, Wiesbaden 2006, S. 9-32.

7 In Großbritannien gilt das Prinzip der Parlamentssouveränität anstelle der Volkssouveränität. Das weist aber nicht auf vermeintlich undemokratische Strukturen hin, sondern nur auf eine besondere und starke Stellung des britischen Parlaments, das sich 1689 gegenüber dem englischen König die Bill of Rights erkämpft hatte. Siehe Roland Sturm: Großbritannien – Regierung und Verwaltung, 27.2.2009, http://www.bpb.de/izpb/10536/regierung-und-verwaltung?p=all (letzter Zugriff: 27.3.2017).

8 Europäisches Parlament: Die Europäische Kommission: Motor und Schaltzentrale, http://www.europarl.de/de/europa_und_sie/institutionen_organe/kommission.html (letzter Zugriff: 27.3.2017).

9 EU-Vertrag: Titel III – Bestimmungen über die Organe (Art. 13 – 19): Art. 17 VII EUV, https://dejure.org/gesetze/EU/17.html (letzter Zugriff: 27.3.2017).

10 Wichard Woyke: Einführung in das Wahlsystem, 13.3.2014, http://www.bpb.de/politik/wahlen/europawahl/71348/einfuehrung-in-das-wahlsystem (letzter Zugriff: 27.3.2017).

 

11 Wichard Woyke: Pluralismus, in: Uwe Andersen, Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 7., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2013, http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/handwoerterbuch-politisches-system/202088/pluralismus (letzter Zugriff: 13.4.2017).

 

12 Europäisches Parlament: Der Ausschuss der Regionen, 2.2017, http://www.europarl.europa.eu/atyourservice/de/displayFtu.html?ftuId=FTU_1.3.14.html (letzter Zugriff: 13.4.2017).

 

13 Martin Große Hüttmann: Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss, in: Martin Große Hüttmann/Hans-Georg Wehling (Hg.): Das Europalexikon, 2., aktual. Aufl. Bonn: Dietz 2013, http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/176929/europaeischer-wirtschafts-und-sozialausschuss-ewsa (letzter Zugriff: 13.4.2017).

 

14 EU-Vertrag: Titel I – Gemeinsame Bestimmungen (Art. 1 – 8): Art. 3 V EUV, https://dejure.org/gesetze/EU/3.html (letzter Zugriff: 27.3.2017).

 

15 EU-Vertrag: Titel I – Gemeinsame Bestimmungen (Art. 1 – 8): Art. 2 EUV, https://dejure.org/gesetze/EU/2.html (letzter Zugriff: 27.3.2017).

 

16 Amtsblatt der Europäischen Union: Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 30.3.2010, http://www.europarl.de/resource/static/files/europa_grundrechtecharta/_30.03.2010.pdf (letzter Zugriff: 27.3.2017);

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Die Europäische Menschenrechtskonvention in der Fassung der Protokolle Nr. 11 und 14 samt Zusatzprotokoll und Protokolle Nr. 4, 6, 7, 12 und 13, http://www.echr.coe.int/Documents/Convention_DEU.pdf (letzter Zugriff: 27.3.2017).

 

17 Freedom House stuft die Pressefreiheit in 22 Mitgliedstaaten als “frei” ein, in den weiteren sechs als “teilweise frei”. [Freedom House: Freedom of the Press 2016 Table of Scores, https://freedomhouse.org/report/freedom-press-2016/table-country-scores-fotp-2016 (letzter Zugriff: 27.3.2017).]

 

18 Marlis Prinzing: Pressefreiheit in Europa. Eine Bestandsaufnahme, 22.7.2016, http://www.bpb.de/apuz/231305/pressefreiheit-in-europa?p=all (letzter Zugriff: 27.3.2017).

 

19 EU-Vertrag: Titel III – Bestimmungen über die Organe (Art. 1319): Art. 19 I EUV, https://dejure.org/gesetze/EU/19.html (letzter Zugriff: 27.3.2017).

 

20 Europäisches Parlament: Herrschaft des Rechts: Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), http://www.europarl.de/de/europa_und_sie/institutionen_organe/gerichtshof.html (letzter Zugriff: 27.3.2017).

 

21 Michael Funke-Kaiser: Vertragsverletzungsverfahren, in: Bergmann (Hg.): Handlexikon der Europäischen Union, Baden-Baden 2012, http://www.europarl.europa.eu/brussels/website/media/Lexikon/Pdf/Vertragsverletzungsverfahren.pdf (letzter Zugriff: 27.3.2017)

 

22 Manfred Görtemaker: Verhandlungen mit den Vier Mächten, 19.3.2009, http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-einheit/deutsche-teilung-deutsche-einheit/43771/2-plus-4-verhandlungen?p=all (letzter Zugriff: 27.3.2017).