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KONTEXT


Der bayerische Finanzminister Markus Söder (CSU) bezweifelt in einem Interview im Deutschlandfunk am Vortag des EU-Türkei-Gipfels im März 2016 den Sinn eines 1:1-Mechanismus, um Migration nach Europa zu reduzieren. Er befürchtet, dass „am Ende alles wieder in Deutschland bleibt“, wenn die anderen Länder Kontingente ablehnen. Eine europäische Lösung wäre das, „was die Staaten am Balkan vormachen“: strengere nationale Binnenkontrollen zur Begrenzung von Zuwanderung und zum Schutz der nationalen Sicherheit.

Der 1:1-Mechanismus ist Teil des EU-Türkei-Aktionsplans von November 2015 und einer Erklärung der EU-Staats- und Regierungschefs sowie der Türkei vom 18. März 2016 (siehe Anhang).2 Die EU-Türkei-Erklärung sieht u.a. vor, dass die Türkei alle seit dem 20. März 2016 irregulär nach Griechenland eingereisten MigrantInnen ohne Aussicht auf Zuerkennung von Asyl, auf einen subsidiären Schutzstatus oder mit zurückgewiesenem Asylanspruch zurücknimmt. Für jede/n zurückgeführte SyrerIn soll jeweils ein anderer syrischer Bürgerkriegsflüchtling aus der Türkei neu in der EU angesiedelt werden (1:1-Mechanismus).

FAKTENCHECK


Gesamtpaket: Der 1:1-Mechanismus soll irreguläre Migration in reguläre Migration überführen und ist eben nicht, wie Söder in seiner Aussage suggeriert, allein dazu gedacht, ein „weniger an Zuwanderung“ zu erzielen. Er ist Teil eines mehrere Instrumente umfassenden Maßnahmenpakets und soll einen legalen und sicheren Weg in die EU für syrische Flüchtlinge mit Anspruch auf Asyl oder subsidiären Schutz schaffen und die Schlepperkriminalität eindämmen. Der EU-Türkei Deal soll insgesamt Anreize für irreguläre Migration reduzieren und zu einem Rückgang der Migration nach Griechenland führen.

Reduzierung irregulärer Zuwanderung: Darauf zielen etwa eine verstärkte Grenzsicherung und Investitionen der EU in Flüchtlingsaufnahmeeinrichtungen in der Türkei ab. Die Türkei hat sich zudem verpflichtet, ankommende MigrantInnen festzuhalten und nicht in Richtung EU weiterreisen zu lassen.

Umsetzung des 1:1-Mechanismus: Bis Anfang Dezember 2016 wurden im Rahmen des 1:1-Mechanismus 748 Menschen zurück in die Türkei gebracht, davon 133 SyrerInnen. Im Gegenzug wurden 2.761 SyrerInnen neu in 14 EU-Staaten angesiedelt. Dazu zählen neben Deutschland (1.060 Flüchtlinge) auch Frankreich (423), die Niederlande (367), Schweden (278) und Norwegen (150); 14 Staaten haben sich bislang nicht daran beteiligt.3 Die geplante Neuansiedlung von monatlich 6.000 Personen über die vorgesehenen Kontingente wurde bisher deutlich verfehlt.4

  • Rückführungen: Rückführungen in die Türkei verlaufen bisher schleppend: Nach dem Putschversuch im Juli 2016 in der Türkei werden sie durch die dortige politische und menschenrechtliche Lage behindert. In der EU ist man sich uneins, ob die Türkei ein sicherer Drittstaat ist, in den Rückführungen erfolgen sollten. Zudem besteht weiterhin ein Mangel an SachbearbeiterInnen in den Aufnahmeeinrichtungen (Hotspots), sowohl aus der griechischen Asylbehörde als auch aus den anderen Mitgliedsstaaten, die sich zu Personalabstellungen verpflichtet haben.
  • Neuansiedlungen: Innerhalb der EU gibt es Probleme bei der Umsetzung der Neuansiedlungen, da verschiedene Staaten sich grundsätzlich weigern, Flüchtlinge aus der Türkei anzusiedeln (siehe Factsheet Lastenteilung).
  • Türkische Sonderrolle: Die türkische Migrationsbehörde DGMM nimmt die Anträge von Flüchtlingen an und bearbeitet sie – ein internationales Novum, da dies bislang in ähnlichen Arrangements durch das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) durchgeführt wurde. Damit könnte die Türkei – wie von verschiedenen Medien und NGOs berichtet5 – eine gezielte Auswahl der Ausreisenden treffen, die sich nicht an dem weltweit geltenden Resettlement-Kriterium, der Schutzbedürftigkeit der Person, orientiert.6

Verletzung des internationalen Rechts auf Asyl: Die humanitäre Lage ist für Flüchtlinge in der Türkei zunehmend prekär, zum Teil kommt es zu Verletzungen des Nichtrückführungsgebots und Misshandlungen durch türkische Grenzschutzbeamte.7 Die Türkei hat ihre Grenze zu Syrien mittlerweile mit einer Mauer verstärkt, immer wieder berichten Medien und NGOs von Schüssen auf Flüchtlinge. Die Unterbringung von Flüchtlingen auf den griechischen Inseln erfolgt in haftähnlichen und unsicheren Zuständen.8

  • Genfer Flüchtlingskonvention: Die Türkei hat die GFK zwar unterzeichnet, sich dabei aber so genannte Regionalausnahmen zusichern lassen: Die Flüchtlingseigenschaft wird nur Personen aus Europa zuerkannt, unter anderem aber nicht Personen aus Syrien.
  • Rechtsunsicherheit: Diese wird für syrische Flüchtlinge noch durch den Status der EU-Türkei-Erklärung verstärkt, da es sich dabei um kein völkerrechtliches Abkommen handelt (keine Klagemöglichkeit).

Europäisches Asylsystem: Allerdings sind MigrantInnen, die nicht aus Syrien kommen, von dem EU-Türkei-Deal ausgenommen. Um international schutzbedürftigen Menschen eine sichere Einreisemöglichkeit zu geben, treibt die Kommission die Schaffung eines permanenten Neuansiedlungsrahmens und die Harmonisierung des gemeinsamen Asylsystems voran.9

Flankierende Maßnahmen: Der Austausch legaler und illegaler Migration ist per se gar nicht darauf angelegt, Zuwanderung zu reduzieren. Darauf zielen vielmehr die flankierenden Maßnahmen der EU-Türkei-Erklärung.

  • Grenzschutz: Eine zentrale Vereinbarung ist ein verstärkter Grenzschutz zwischen Bulgarien, Griechenland und der Türkei, sowohl auf dem Wasser wie auf dem Land. Die Türkei verpflichtet sich, alle nötigen Mittel zu ergreifen, um das Entstehen neuer, irregulärer Flüchtlingsrouten von der Türkei aus in die EU zu unterbinden.
  • Fördergelder: Die EU investiert drei Mrd. Euro in Hilfseinrichtungen und Auffanglager für Flüchtlinge in der Türkei, um die Situation und die Infrastruktur vor Ort zu verbessern, sowie um Push-Faktoren in Richtung EU zu mindern. Den Flüchtlingen soll beispielsweise der Zugang zum türkischen Arbeitsmarkt vereinfacht und ihre Lebenssituation grundsätzlich verbessert werden. So haben über 11.000 SyrerInnen bis Mitte November 2016 eine Arbeitserlaubnis erhalten.10 Der Zugang zu Bildung wird durch Stipendien ermöglicht. Ist das Geld aufgebraucht, wird die EU bis Ende 2018 noch einmal weitere drei Mrd. Euro zur Verfügung stellen.
  • Kontingente: Die Kontingente für die Aufnahme von Schutzbedürftigen nach Europa unter dem 1:1-Mechanismus sind auf maximal 54.000 SyrerInnen begrenzt, wobei eine zusätzliche Aufnahme aus humanitären Gründen möglich ist.

Rückgang: Bereits wenige Wochen nach Inkrafttreten der Vereinbarung stellten die Europäische Kommission und das UNHCR einen Rückgang der irregulären Zuwanderung aus der Türkei nach Griechenland fest (siehe Grafik). So sank die Zahl der ankommenden Menschen von vorher fast 1.800 Personen auf im Schnitt 94 pro Tag. Insgesamt ging die sie von 56.335 im Februar 2016 auf 26.971 im März und 1.554 im Juni massiv zurück. Im November lag die Zahl der Ankommenden bei 1.971.11


Söders Aussage schreibt dem 1:1-Mechanismus eine Wirkung zu, den dieser für sich genommen nicht hat – nämlich einen Rückgang der Zuwanderung. Das war und ist nicht Ziel des Mechanismus. Es sind die flankierenden Maßnahmen der EU-Türkei-Erklärung, die zu dem beobachtbaren Rückgang der irregulären Migration geführt haben.

Er verstärkt mit seiner Äußerung die Zweifel an einer handlungsfähigen Europäischen Union. Er bedient sich dabei aus dem populistischen und europaskeptischen Diskurs, indem er eine Renationalisierung des Grenzschutzes und größere Unterstützung für die Grenzschutz-Politiken der Länder des Balkans fordert. Indem Söder auch mutmaßt, dass „am Ende alles wieder in Deutschland bleibt“, münzt er das gängige Vorurteil von Deutschland als Zahlmeister Europas auf die Migrationspolitik um (siehe Factsheet Lastenteilung).

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EU-Türkei-Erklärung: Die wichtigsten Punkte2

  • 1:1-Mechanismus: Die Türkei nimmt ab dem 4. April 2016 alle ab dem 20. März 2016 irregulär nach Griechenland eingereisten Personen ohne Bleibeperspektive zurück. Für jede/n zurückgeführte SyrerIn wird ein anderer syrischer Bürgerkriegsflüchtling neu in der EU angesiedelt. Dies geschieht bis zu einer Obergrenze von 54.000 Personen3 (siehe Factsheet Lastenteilung).
  • Grenzschutz: Die Türkei sagte verstärkte Hilfe bei der Verhinderung irregulärer Migration auf See- und Landrouten in die EU zu. Im Gegenzug schafft die EU mit dem 1:1-Mechanismus reguläre Einreisemöglichkeiten.
  • Subventionen: Bis Ende 2017 erhält die Türkei gestaffelt insgesamt drei Milliarden Euro Flüchtlingshilfe, welche an Konditionen sowie monatliche Fortschrittsberichte geknüpft sind. Bei frühzeitiger Ausschöpfung der Summe und gleichzeitigen zufriedenstellenden Fortschritten können weitere drei Milliarden Euro bewilligt werden. Bis Ende August wurden 2,2 von 3 Milliarden Euro mobilisiert und zwischenzeitlich sogar zusätzliche Maßnahmen bewilligt.
  • Visaliberalisierung: Verhandlungen für die Visaliberalisierung werden beschleunigt, ursprünglich war sie bereits für Ende Juni 2016 vorgesehen.
  • EU-Beitrittsprozess: Verhandlungen zum Beitrittsprozess werden durch die Öffnung neuer Verhandlungskapitel neu belebt (Kapitel 17 und Kapitel 33).

Glossar:

  • Die Genfer Flüchtlingskonvention: Unter dem Eindruck des Schreckens des zweiten Weltkriegs wurde am 28. Juli 2951 die Genfer Flüchtlingskonvention verabschiedet – eigentlich „Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge“. In ihr wird beispielsweise festgelegt, wer Flüchtlingsstatus erhält und wer nicht, was die Rechte eines Flüchtlings sind, aber auch welche Pflichten sich daraus ergeben.
  • Flüchtlingsdefinition: Die Genfer Flüchtlingskonvention definiert Flüchtlinge als Personen, die „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen können oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen wollen.“ Flüchtlinge nach dieser Definition haben das Recht auf Asyl in einem anderen Staat, das ihnen nicht verwehrt werden darf.
  • Subsidiärer Schutz: Als Menschen mit subsidiärer Schutzberechtigung werden in der Europäischen Union Menschen bezeichnet, die zwar nicht unter die oben genannte Flüchtlingsdefinition fallen, denen aber dennoch „ernsthafter Schaden“ drohen würde, würde man sie in ihr Heimatland abschieben. Sie erhalten eine Aufenthaltsgenehmigung sowie Zugang zu Bildung und Sozialleistungen und dürfen nicht abgeschoben werden. Der subsidiäre Schutzstatus wird zunächst nur für ein Jahr gewährt und dann überprüft.
  • Europäische Menschenrechtskonvention: Die Konvention zum Schutz von Menschenrechten und Grundrechten ist ein Katalog von Menschenrechten und Grundrechten. Sie wurde vom Europarat ausgearbeitet, über ihre Einhaltung wacht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Sie trat am 3. September 1953 in Kraft. Die Europäische Union als Institutionengebilde ist der Konvention noch nicht beigetreten, sie strengt dies allerdings bereits seit mehreren Jahren an.
  • Charta der Grundrechte der Europäischen Union: Ist zusammen mit dem Vertrag von Lissabon in Kraft getreten und hält bindend die Grund- und Menschenrechte aller Bürger in der Europäischen Union fest.

 

Wo finde ich diese Informationen?

1. Deutschlandfunk: Interview mit Markus Söder (CSU): Balkanstaaten machen europäische Lösung vor, 17.3.2016, http://www.deutschlandfunk.de/eu-tuerkei-gipfel-soeder-balkanstaaten-machen-europaeische.694.de.html?dram:article_id=348577 (letzter Zugriff: 22.2.2017).

2. Europäischer Rat: Erklärung EU-Türkei, http://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2016/03/18-eu-turkey-statement/ (letzter Zugriff: 26.7.2016).

3. Europäische Kommission: Relocation and Resettlement – State of Play, 6.12.2016, http://ec.europa.eu/dgs/home-affairs/what-we-do/policies/european-agenda-migration/background-information/docs/20161208/update_of_the_factsheet_on_relocation_and_resettlement_en.pdf (letzter Zugriff: 12.12.2016).

4. Europäische Kommission: Umverteilung und Neuansiedlung: Positiver Trend setzt sich fort, doch weitere Anstrengungen notwendig, 13.7.2016, http://europa.eu/rapid/press-release_IP-16-2435_de.htm (letzter Zugriff: 22.2.2017).

5. MDR Aktuell: Türkei lässt Hochqualifizierte nicht weiterreisen, 21.5.2016, http://www.mdr.de/nachrichten/politik/inland/tuerkei-laesst-hochqualifizierte-fluechtlinge-nicht-ausreisen102.html (letzter Zugriff: 22.2.2017).

6. FAZ: Lässt die Türkei weniger gebildete Syrer nach Europa?, 21.6.2016, http://www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/tuerkei-scheint-ausreisende-syrer-mit-visum-gezielt-auszuwaehlen-14300510.html (letzter Zugriff: 6.9.2016).

7. Amnesty International Deutschland: Amnesty kritisiert EU-Flüchtlingspolitik, 17.11.2016, http://www.amnesty.de/2016/11/17/amnesty-kritisiert-eu-fluechtlingspolitik-abschottung-statt-schutz-von-menschen?destination=node%2F1345 (letzter Zugriff: 29.11.2016).

8. Pro Asyl: Hotspots in Griechenland brennen, Europa lässt Flüchtlinge im Stich, 22.9.2016, https://www.proasyl.de/news/hotspots-in-griechenland-brennen-europa-laesst-fluechtlinge-im-stich/ (letzter Zugriff: 29.11.2016);

UNHCR: EU-Türkei-Deal: UNHCR fordert mehr Schutzmaßnahmen, 1.4.2016, http://www.unhcr.de/home/artikel/ab4bc8adfe93b37c3e536a6275c8977e/eu-tuerkei-deal-unhcr-fordert-mehr-schutzmassnahmen.html (letzter Zugriff: 6.9.2016).

9. Europäische Kommission: Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung eines Neuansiedlungsrahmens der Union und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 516/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates, COM (2016) 468 final, 13.7.2016, http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX:52016PC0468 (letzter Zugriff: 22.2.2017).

10. Europäische Kommission: 4th Report on the Progress made in the Implementation of the EU Turkey Statement, 6.12.2016, S.6, http://ec.europa.eu/dgs/home-affairs/what-we-do/policies/european-agenda-migration/proposal-implementation-package/docs/20161208/4th_report_on_the_progress_made_in_the_implementation_of_the_eu-turkey_statement_en.pdf (letzter Zugriff: 14.12.2016).

11. Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR): Vergleich monatlicher Ankünfte über das Mittelmeer, http://data.unhcr.org/mediterranean/country.php?id=83 (letzter Zugriff: 22.2.2017).