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KONTEXT
Am Tag nach der Entscheidung für den EU-Austritt Großbritanniens (sog. „Brexit“) gratuliert Björn Höcke den BritInnen zu ihrer Möglichkeit, über die „Zukunft ihres Landes abzustimmen“. Sie hätten den „Weg des kollektiven Wahnsinns verlassen“ und sich „für Demokratie und Volkssouveränität“ entschieden. Nun fordert er, dass „[…] auch das deutsche Volk den Weg der Freiheit gehen“ darf.
Am Tag nach der Entscheidung für den EU-Austritt Großbritanniens (sog. „Brexit“) gratuliert Björn Höcke den BritInnen zu ihrer Möglichkeit, über die „Zukunft ihres Landes abzustimmen“. Sie hätten den „Weg des kollektiven Wahnsinns verlassen“ und sich „für Demokratie und Volkssouveränität“ entschieden. Nun fordert er, dass „[…] auch das deutsche Volk den Weg der Freiheit gehen“ darf.
FAKTENCHECK
Mehrheit der deutschen BürgerInnen gegen EU-Austritt Deutschlands: Im Anschluss an das Brexit-Referendum gibt in einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach eine klare Mehrheit der befragten BundesbürgerInnen (78 Prozent) an, dass sie es besser fänden, wenn Deutschland in der EU bliebe (Abb. 1). Davon befürworten die AnhängerInnen der Parteien CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen mit jeweils mehr als 80 Prozent die EU-Mitgliedschaft Deutschlands. Lediglich unter den AfD-AnhängerInnen ist die Zustimmung zur EU-Mitgliedschaft gering (28 Prozent). Im zeitlichen Verlauf ist die skizzierte Meinungslage relativ stabil (siehe Abb. 2 im Anhang). Björn Höckes Behauptung entspricht damit nicht der empirisch nachgewiesenen Lage.
Abb. 1: Es wäre besser für die Zukunft, wenn Deutschland Mitglied der Europäischen Union bleibt (in Prozent).3
Kein eindeutiges Votum für ein Referendum über die deutsche EU-Mitgliedschaft: Im Falle Großbritanniens hielten laut Umfragen unmittelbar vor dem Referendum 66 Prozent der BritInnen das Abhalten eines Referendums über die britische EU-Mitgliedschaft für richtig, während 24 Prozent dagegen waren.4 In Deutschland ergibt sich ein weniger deutliches Bild: Nur 45 Prozent wünschen sich ein Referendum zur EU-Mitgliedschaft, 40 Prozent wollen dies nicht und 15 Prozent haben dazu keine Meinung.5
Mehrheit der Deutschen lehnt Brexit ab: Auch für die Brexit-Entscheidung zeigen die befragten Deutschen wenig Verständnis: Eine Mehrheit von 63 Prozent der Befragten findet den EU-Austritt Großbritanniens nicht gut, während lediglich 17 Prozent diesen befürworten (siehe Abb. 3 im Anhang). EU-weit nahm die Zustimmung zur EU-Mitgliedschaft des eigenen Mitgliedstaates nach der Brexit-Entscheidung sogar zu: Im August 2016 war die Zustimmung mit 62 Prozent um 5 Prozentpunkte höher als im Vergleichszeitraum März 2016 (vor der Brexit-Entscheidung). In Deutschland stieg die Zustimmung für die eigene Mitgliedschaft von 61 auf 69 Prozent.6
Europäische Identität: In Deutschland ist eine europäische Identität tief verankert. So verstehen sich laut aktuellem Eurobarometer (Herbst 2016) 68 Prozent der Deutschen als europäische BürgerInnen. Damit liegt Deutschland über dem EU-Durchschnitt von 63 Prozent.7 Trotz leicht abnehmender Tendenz seit der Finanzkrise haben 50 Prozent der Deutschen (Juni 2016) eine positive Meinung zur EU (zum Vergleich: Großbritannien 44 Prozent), unter den 18-34-Jährigen sind es sogar 60 Prozent (zum Vergleich: Großbritannien 57 Prozent).8
Nutzen der EU-Mitgliedschaft: Den jeweiligen Kosten eines Politikbereichs steht ein spezifischer Nutzen gegenüber, der in der öffentlichen Wahrnehmung häufig nicht präsent ist. Die Reduzierung der EU auf ihre finanzielle Dimension wie beispielsweise beim Vorwurf, Deutschland sei der größte Nettozahler der EU (à Factsheet Goldesel), steht exemplarisch für diese Vereinfachung. So würde ein EU-Austritt gerade Deutschland als Exportnation schaden.9 Doch die EU ist weit mehr: Es geht hier auch um den EU-weiten Verbraucherschutz, Produktsicherheit, Reise- und Wohnsitzfreiheit, um Umweltstandards sowie um Sicherheit und Recht in einem europäischen Raum ohne Binnengrenzen.10 Darüber hinaus darf nicht vergessen werden, dass die EU eine friedliche Konfliktregelung und eine Verrechtlichung der Beziehungen zwischen Staaten auf einem Kontinent ermöglicht, der über Jahrhunderte und bis in die 1990er Jahre kriegerischer Gewalt ausgesetzt war.11 Ferner vernachlässigt die Debatte über die Abgabe nationaler Entscheidungskompetenzen, dass Deutschland erst durch die europäische Integration seine nationale Souveränität schrittweise wiedererlangt hat.12
Verfassungsrechtliche Lage: Rein rechtlich steht einer bundesweiten Abstimmung über die EU-Mitgliedschaft Deutschlands das Grundgesetz entgegen, da es bundesweite Volksabstimmungen nicht vorsieht. Einzige Ausnahme wäre eine Abstimmung über eine neue Verfassung (Art. 146 GG) oder eine Neugliederung des Bundesgebiets (Art. 29 Abs. 2 GG), z. B. durch eine Zusammenlegung von Bundesländern.13 Ein (bindendes) Referendum über die EU-Mitgliedschaft Deutschlands wäre also ohne Verfassungsänderung gar nicht möglich.14
EU und Sklaverei – ein falscher und unangemessener Vergleich: Sklaverei ist durch die Vereinten Nationen definiert als „Rechtsstellung oder Lage einer Person, an der einzelne oder alle der mit dem Eigentumsrecht verbundenen Befugnisse ausgeübt werden“.15 Das heißt, eine Person wird vorübergehend oder lebenslang als Eigentum einer anderen Person behandelt. Dies beinhaltet, dass über den Körper einer Person willkürlich verfügt und diese zur Arbeit gezwungen werden kann; auch sind Mobilitätseinschränkung im Sinne von Gefangenschaft und Statusdegradierung („Eigentum“) zentrale Elemente von Sklaverei.16 Sklaverei wird als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft und ist spätestens seit der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 verboten.17 Die Mitgliedschaft in der EU bzw. UnionsbürgerInnen mit Sklaverei bzw. mit SklavInnen gleichzusetzen ist daher nicht nur falsch, sondern auch mit Blick auf die entwertende Verwendung und Verharmlosung der Bedeutung des Begriffs grundsätzlich unangemessen:
- Freiwillige EU-Mitgliedschaft: Angesichts der Tatsache, dass die EU-Mitgliedschaft auf einer freiwilligen Entscheidung beruht, die eine bewusste Abgabe relevanter Hoheitsrechte an ein gemeinschaftliches Integrationsprojekt bedeutet, kann von einer durch Gewalt erzwungenen „Versklavung“ nicht die Rede sein.
- Garantierte Grund- und Freiheitsrechte: Weder werden die EU-BürgerInnen in ihrer Mobilität eingeschränkt (dank der Personenfreizügigkeit können sie sogar ihren Wohn- und Arbeitsort innerhalb der 28 Mitgliedstaaten frei wählen), noch werden sie zur Arbeit gezwungen – und schon gar nicht wird durch die EU Gewalt über ihren Körper ausgeübt. Ganz im Gegenteil – dank der EU verfügen alle UnionsbürgerInnen durch die EU-Grundrechtecharta und die Europäische Menschenrechtskonvention über einen umfassenden Grundrechtsschutz, der vor Eingriffen jeglicher staatlicher Gewalt schützt (à Factsheet EU-Demokratie 2).
Der Begriff der EU-Sklaverei ist also falsch. Höcke weiß also entweder nicht, was „Sklaverei“ bedeutet, oder er nutzt die Falschaussage absichtlich, um die EU zu diffamieren. Dabei verharmlost er schlimme Verbrechen und degradiert UnionsbürgerInnen gegen deren Willen zur Ware.
Höckes Aussage impliziert einen Alleinvertretungsanspruch für das „deutsche Volk“, indem er sich selbst als Stimme des Volkes darstellt („Ich weiß, auch das deutsche Volk…“). Doch seine Aussage ist nachweislich falsch und widerlegt, denn die EU-Mitgliedschaft wird in Deutschland nur von AfD-WählerInnen mehrheitlich abgelehnt. Von einer deutlichen Umfragemehrheit wird die EU-Mitgliedschaft parteiübergreifend ausdrücklich befürwortet. Höcke versucht, eine europapopulistische Stimmung zu schüren und seine eigene Forderung nach einem EU-Austritt Deutschlands zu legitimieren, indem er die EU-Ablehnung der AfD-AnhängerInnen auf „das deutsche Volk“ überträgt.
Die Aufforderung an Deutschland, nun den „Weg der Freiheit“ zu gehen anstelle des „Weg(es) des kollektiven Wahnsinns“, unterstellt eine aktuelle Unfreiheit unter dem Joch der „EU-Sklaverei“. Solche Sprachbilder drücken eine angebliche Unterdrückung der Mitgliedstaaten und BürgerInnen durch die EU aus. Es ist aber ein unangemessener, falscher Vergleich, der eine freiwillige Mitgliedschaft in einer Wirtschafts- und Wertegemeinschaft mit einem Zwangsverhältnis der Ausbeutung und Grausamkeit gleichstellt. Neben der Banalisierung von Sklaverei soll diese Art der Sprache durch Übertreibung und falsche Behauptung polarisieren. (Factsheet EU-Demokratie 2)
Abb. 2: Anteil der Deutschen, die die Mitgliedschaft ihres Landes in der EU a) für eine gute Sache halten, b) für eine schlechte Sache halten, c) die Mitgliedschaft weder gut noch schlecht finden (in Prozent)18
Frage: „Ist die Mitgliedschaft (UNSER LAND) in der Europäischen Union Ihrer Meinung nach …? Eine gute Sache; Eine schlechte Sache; Weder gut noch schlecht; Weiß nicht/Keine Angabe.“
Abb. 3: Einstellung der Deutschen zum Brexit (in Prozent)19:
Frage: „Großbritannien hat sich ja vor Kurzem in einer Volksabstimmung dafür entschieden, die EU zu verlassen. Finden Sie es gut, dass Großbritannien die EU verlässt, oder finden Sie das nicht gut?“
Wo finde ich diese Informationen?
1 Pressemitteilung der AfD: AfD fordert Volksentscheid über den Verbleib Deutschlands in der EU, 24.6.2016, http://afd-thl.de/2016/06/24/afd-fordert-volksentscheid-ueber-den-verbleib-deutschlands-in-der-eu/ (letzter Zugriff: 19.12.2016).
2 The Electoral Commission: EU referendum results, http://www.electoralcommission.org.uk/find-information-by-subject/elections-and-referendums/past-elections-and-referendums/eu-referendum/electorate-and-count-information (letzter Zugriff: 23.2.2017).
3 Thomas Petersen: Abschied mit Bedauern, Institut für Demoskopie Allensbach, IfD-Umfrage 11058, Juli 2016, S. 26, http://www.ifd-allensbach.de/uploads/tx_reportsndocs/FAZ_Juli_Brexit.pdf (letzter Zugriff: 7.3.2017).
4 Ipsos Mori: June 2016: Final referendum poll, hier S. 8, https://www.ipsos-mori.com/Assets/Docs/Polls/eu-referendum-charts-23-june-2016.pdf (letzter Zugriff: 24.2.2017).
5 Spiegel Online: Viele Deutsche wünschen sich eigenes EU-Referendum, 16.3.2016, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/deutschland-viele-buerger-wuenschen-sich-eigenes-eu-referendum-a-1082629.html (letzter Zugriff: 26.1.2017).
6 Bertelsmann Stiftung: eupinions 21.11.2016, Brexit lässt die Zustimmung zur Europäischen Union steigen, hier S. 1, https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/user_upload/EZ_flashlight_europe_DT.pdf (letzter Zugriff: 24.2.2017).
7 Europäische Kommission: Eurobarometer 86.2, Befragung November 2016, http://ec.europa.eu/COMMFrontOffice/publicopinion/index.cfm/Survey/index#p=1&instruments=STANDARD http://www.bpb.de/nachschlagen/datenreport-2016/227030/einstellungen-zu-europa(letzter Zugriff: 24.2.2017).
8 Pew Research Center, Euroscepticism Beyond Brexit, 2016, http://www.pewglobal.org/files/2016/06/Pew-Research-Center-Brexit-Report-FINAL-June-7-2016.pdf (letzter Zugriff: 24.2.2017).
9 Christian Gokus: Die Bedeutung des Binnenmarktes, S. 173-186, in: Mathias Jopp/Funda Tekin (Hrsg.): Der Wert Europas, Studie des Instituts für Europäische Politik, Berlin 2013, S. 178-179.
10 Julian Plottka/René Repasi: Der Nutzen der Unionsbürgerschaft, S. 51-102, in: Mathias Jopp/Funda Tekin (Hrsg.): Der Wert Europas, Studie des Instituts für Europäische Politik, Berlin 2013, S. 93.
11 Julian Plottka/René Repasi: Die normativen Grundlagen der Europäischen Union, S. 5-50, in: Mathias Jopp/Funda Tekin (Hrsg.): Der Wert Europas, Studie des Instituts für Europäische Politik, Berlin 2013, S. 10-11.
12 Julian Plottka/René Repasi: Die normativen Grundlagen der Europäischen Union, S. 5-50, in: Mathias Jopp/Funda Tekin (Hrsg.): Der Wert Europas, Studie des Instituts für Europäische Politik, Berlin 2013, S. 14.
13 Spiegel Online: „Es gibt keine echte Mehrheit für den Brexit“, Interview mit Bernhard Weßels, 28.6.2016, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/wie-beim-brexit-wann-ist-ein-referendum-sinnvoll-a-1100035.html (letzter Zugriff: 1.12.2016).
14 Deutscher Bundestag: Wissenschaftliche Dienste: Welche rechtlichen Grundlagen sind für Volksbefragungen auf Bundesebene erforderlich?, WD 3 – 3000 – 007/15, S. 5, https://www.bundestag.de/blob/408484/bbe4919d99f9d5ae250cabe3c1b68b42/wd-3-007-15-pdf-data.pdf (letzter Zugriff: 7.3.2017);
Deutscher Bundestag: Wissenschaftliche Dienste: Referenden zu europapolitischen Themen in der Bundesrepublik Deutschland, WD 3 – 3000 – 099/13, S. 5, https://www.bundestag.de/blob/416460/1309a573fdaa9deac5ea135f7cd3de23/wd-3-099-13-pdf-data.pdf (letzter Zugriff: 7.3.2017).
15 Zusatzübereinkommmen über die Abschaffung der Sklaverei, des Sklavenhandels und sklavereiähnlicher Einrichtungen und Praktiken, 1956, https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19560177/200804150000/0.311.371.pdf (letzter Zugriff: 4.5.2017).
16 Zeuske, Michael: Globale Sklavereien: Geschichte und Gegenwart, Aus Politik und Zeitgeschichte, 2015, Jg. 65, Ausg. 50-51, S. 7.
17 Zeuske, Michael: Globale Sklavereien: Geschichte und Gegenwart, Aus Politik und Zeitgeschichte, 2015, Jg. 65, Ausg. 50-51, S. 7. Piepenbrink, Johannes: Sklaverei – Editorial, Aus Politik und Zeitgeschichte, 2015, Jg. 65,Ausg. 50-51 Ausg., S. 2.
18 Eigene Darstellung nach den Daten: Eurobarometer 53, 55, 57, 59, 61, 63, 65, 67, 69, 71, 73, 75.
19 Thomas Petersen: Abschied mit Bedauern, Institut für Demoskopie Allensbach, IfD-Umfrage 11058, Juli 2016, S. 22, http://www.ifd-allensbach.de/uploads/tx_reportsndocs/FAZ_Juli_Brexit.pdf (letzter Zugriff: 7.3.2017).
Abfrage der von der Europäischen Kommission in Auftrag gegebenen Eurobarometer:
Europäische Kommission: Öffentliche Meinung, http://ec.europa.eu/COMMFrontOffice/publicopinion/index.cfm/Survey/index#p=1&instruments=STANDARD (letzter Zugriff: 2.3.2017).
Weiterführende Informationen: Katrin Böttger/Mathias Jopp (Hrsg.): Handbuch zur deutschen Europapolitik, Berlin 2016.