Zu einer PDF-Variante dieses Factsheets geht es hier.

KONTEXT


Nach der Entscheidung der BritInnen, die EU zu verlassen, trifft die Fraktionsvorsitzende der Partei Die Linke, Sahra Wagenknecht, in einem Interview mit der Zeitung „Die Welt“ die Aussage, dass die „Brüsseler Institutionen“ als „undemokratisch“ wahrgenommen werden.

Die emotional geführte Kampagne für den britischen EU-Austritt zielte auf die vermeintliche Rückgewinnung von durch die europäische Integration angeblich verlorene Souveränität („Vote leave, take control“2) sowie auf angeblich potenzielle Einsparungen („We send the EU £350million a week“3). So wurde die EU u. a. mit Begriffen wie „ancien regime“4 und „empire“5 als willkürlich unterwerfendes, absolutistisches Herrschaftssystem umschrieben (à Factsheet EU-Demokratie 2). Auch der Vorwurf eines „demokratischen Defizits“ der EU wurde in diesem Sinne von der Leave-Kampagne instrumentalisiert.

FAKTENCHECK


Mehrheit der EU-BürgerInnen beschreibt EU als demokratisch: Seit 2006 gibt eine Mehrheit der befragten EU-BürgerInnen in der in regelmäßigen Abständen erhobenen Meinungsumfrage „Eurobarometer“ an, dass sie die EU als demokratisch beschreiben würden (Abb. 1). Diese Einschätzung ging zwar von 68 Prozent im Herbst 2010 auf 61 Prozent im Herbst 2016 zurück, dennoch liegt sie seit Herbst 2012 relativ konstant auf einem Niveau von ca. 60 Prozent. Demgegenüber kam die Einschätzung, das Wort „demokratisch“ beschreibe die EU schlecht, nie über die 35 Prozent-Marke hinaus und lag bislang stets mit mindestens 22 Prozentpunkten hinter den positiven Umfragewerten zurück. Entgegen Wagenknechts Behauptung beschreibt damit eine Mehrheit der befragten EU-BürgerInnen die EU seit Jahren als demokratisch.

Abb. 1: EU-weite Beschreibung der EU als demokratisch in Prozent6

Frage: Bitte sagen Sie mir für jedes der folgenden Worte, ob es Ihre Vorstellung von der EU sehr gut, ziemlich gut, ziemlich schlecht oder sehr schlecht beschreibt. Demokratisch (%)

Mehrheit der Deutschen beschreibt EU als demokratisch: Auch in Deutschland hält eine Mehrheit der Befragten die EU für demokratisch (Abb. 2). Ähnlich zur EU-weiten Entwicklung sind die positiven Werte von 78 Prozent im Jahr 2008 auf 68 Prozent im Herbst 2016 gesunken. Hingegen waren stets weniger als 30 Prozent (bis auf Frühling 2016) der Meinung, dass der Begriff „demokratisch“ die EU schlecht beschreibe. Der Unterschied zwischen beiden Umfragewerten beträgt mindestens 21 Prozentpunkte. So wird die EU nach wie vor von einer Minderheit als undemokratisch wahrgenommen. Dabei nehmen mehr befragte Deutsche die EU als demokratisch wahr, als dies im EU-Durchschnitt der Fall ist.

Abb.2: Deutschlandweite Beschreibung der EU als demokratisch in Prozent7

Frage: Bitte sagen Sie mir für jedes der folgenden Worte, ob es Ihre Vorstellung von der EU sehr gut, ziemlich gut, ziemlich schlecht oder sehr schlecht beschreibt. Demokratisch (%)

Zufriedenheit mit der Funktionsweise der Demokratie in den Mitgliedsstaaten: Die Mehrheit der deutschen BürgerInnen nimmt die EU als demokratisch wahr, jedoch zeigen Umfragewerte zur Zufriedenheit mit der Funktionsweise der Demokratie, dass sie mit der Demokratie in Deutschland zufriedener sind als mit der Demokratie in der EU (siehe Abb. 3 im Anhang). Das liegt u. a. daran, dass die Union als supranationales politisches System häufig an nationalstaatlich bekannten Standards8 und einer ideellen Vorstellung von Demokratie gemessen wird, der selbst EU-Staaten wie Deutschland nicht vollständig gerecht werden (à Factsheet EU-Demokratie 2). Darüber hinaus sind die befragten Deutschen mit der nationalstaatlichen Demokratie sogar deutlich zufriedener als die befragten BürgerInnen anderer EU-Staaten, die die demokratische Qualität der EU häufig höher einschätzen als jene in ihren Mitgliedstaaten (siehe Abb. 4 im Anhang). Betrachtet man den EU-Durchschnitt, verlaufen die Zufriedenheitsraten hinsichtlich der demokratischen Qualität der Nationalstaaten und der EU auf ähnlichem Niveau.

Sinkende Zufriedenheit durch Krisenwahrnehmung: Auffällig ist, wie sich die Wahrnehmung der EU-Demokratie und die Einschätzung ihrer Performanz im Zuge der Krisenwahrnehmung bei den UnionsbürgerInnen verändert hat. Vor allem die Einschnitte in den Umfragewerten im Zeitraum um die europäische Finanz- (2007/2008) und die Eurokrise (2009/2010) deuten auf eine negative Beeinflussung des Demokratieempfindens der UnionsbürgerInnen hin (siehe Abb. 4 im Anhang).

 

Wagenknechts Aussage, dass die EU als „undemokratischer Machtapparat“ wahrgenommen werde, lässt sich empirisch nicht belegen. Die Umfrageergebnisse von Eurobarometer zeigen vielmehr, dass sowohl eine Mehrheit der Deutschen als auch eine Mehrheit der EU-BürgerInnen die EU konstant als demokratisch beschreiben würden.

Allenfalls weisen die Umfragen die Unzufriedenheit eines Teils der UnionsbürgerInnen mit der Funktionsweise der Demokratie in der EU nach. Daraus den Rückschluss auf die Einschätzung zu ziehen, die EU-Institutionen würden als „undemokratischer Machtapparat“ wahrgenommen, entbehrt jeder empirischen Grundlage, ob sich Wagenknecht nun auf den EU-Durchschnitt oder auf deutschlandweite Einschätzungen bezieht.

Wagenknechts Wortwahl („Machtapparat“) schließt an das europaskeptische Motiv vom „Brüssler Diktat“ an ( Factsheet EU-Demokratie 2). Dabei scheint Wagenknecht nicht an einer Konkretisierung ihres Vorwurfs interessiert zu sein; sie versäumt dadurch die Chance zu konstruktiver Kritik und begnügt sich stattdessen mit der Nachahmung eines gängigen Vorurteils.

Weitere Abbildungen:

 

Abb. 3: Zufriedenheit der Deutschen in Prozent mit a) der deutschen Demokratie und b) der EU-Demokratie9 (eigene Darstellung)

Frage 1: Sind Sie mit der Art und Weise, die die Demokratie in Deutschland funktioniert, alles in allem gesehen zufrieden?

Frage 2: Und wie ist es mit der Art und Weise, wie die Demokratie in der EU funktioniert?

Abb.4: Zufriedenheit der EU-BürgerInnen in Prozent mit a) der nationalstaatlichen Demokratie und b) der EU-Demokratie10 (eigene Darstellung)

Frage 1: Sind Sie mit der Art und Weise, die die Demokratie in (UNSEREM LAND) funktioniert, alles in allem gesehen zufrieden?

Frage 2: Und wie ist es mit der Art und Weise, wie die Demokratie in der EU funktioniert?

 

 

Wo finde ich diese Informationen?

1 Die Welt online: Wagenknecht fordert Referenden über EU-Verträge, Interview mit Sahra Wagenknecht, 28.6.2016, https://www.welt.de/politik/deutschland/article156624985/Wagenknecht-fordert-Referenden-ueber-EU-Vertraege.html

(letzter Zugriff: 27.2.2017).

 

2 Vote leave take control: Why Vote Leave, http://www.voteleavetakecontrol.org/index.html (letzter Zugriff: 7.3.2017).

 

3 Ben Glaze/Dan Bloom: Boris Johnson’s Brexit campaign prints discredited claim in 2ft high letters on the side of massive bus, in: Mirror, 11.5.2016.

 

4 Boris Johnson: Speech on the EU referendum, 9.5.2016, http://www.conservativehome.com/parliament/2016/05/boris-johnsons-speech-on-the-eu-referendum-full-text.html (letzter Zugriff: 2.3.2017).

 

5 Michael Gove: The Facts of Life Say Leave: Why Britain and Europe will be better off after we vote Leave, 19.4.2016, https://de.scribd.com/doc/309694809/Michael-Gove-pro-Brexit-speech (letzter Zugriff: 2.3.2017).

 

6 Eigene Darstellung nach den Daten: Eurobarometer (65.1, 70.1, 74.2, 78.1, 81.4, 85.2).

Abfrage der von der Europäischen Kommission in Auftrag gegebenen Eurobarometer:

Europäische Kommission: Öffentliche Meinung, http://ec.europa.eu/COMMFrontOffice/publicopinion/index.cfm/Survey/index#p=1&instruments=STANDARD (letzter Zugriff: 24.2.2017).

 

7 Eigene Darstellung nach den Daten: Eurobarometer (65.1, 70.1, 74.2, 78.1, 81.4, 85.2).

 

8 Sanchez-Cuenca, Ignacio: The Political Basis of Support for European Integration, 2002, European Union Politics 1 (Heft 2) S. 147–71;

Hobolt, Sara B.: Citizen Satisfaction with Democracy in the European Union, 2012, JMCS 50 (Heft S1), S. 88–105.

 

9 Eigene Darstellung nach den Daten: Eurobarometer (61, 63.4, 65.2, 68.1, 72.4, 73.4, 76.3, 77.3, 79.3, 81.4, 83.3, 85.2).

 

10 Eigene Darstellung nach den Daten: Eurobarometer (61, 63.4, 65.2, 68.1, 72.4, 73.4, 76.3, 77.3, 79.3, 81.4, 83.3, 85.2).