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KONTEXT
Im Europawahlprogramm der CSU wird insbesondere der Kommission eine angeblich unkontrollierte und nicht durch das Parlament gesteuerte „Regulierungswut“ bzw. „Überregulierung“ vorgeworfen. Das Programm bezieht sich hier hauptsächlich auf das alleinige Initiativrecht der Kommission sowie ihre Kompetenz, sogenannte „delegierte Rechtsakte“ erlassen zu können. Die CSU fordert, dass die Kommission ohne Zustimmung des Rates der EU und des Europäischen Parlaments weder neue Regulierungen noch Vorschriften erlassen können soll.
Der Europaplan wurde für die Europawahl im Mai 2014 verfasst. Da die AfD immer mehr Zulauf bekam, fürchtete die CSU vor den Wahlen um ihr selbsterklärtes Ziel, 50 Prozent der Stimmen in Bayern für sich zu gewinnen und damit an den Erfolg der Europawahl 2009 (48,1 Prozent) anzuknüpfen.2
FAKTENCHECK
Rückgang der EU-Regulierung: Die Zahl der von der Kommission vorgelegten Vorschläge für neue Rechtsakte (Richtlinien oder Verordnungen) hat erheblich abgenommen, so beispielsweise von 159 im Jahr 2011 auf 48 im Jahr 2015. Im Rahmen des gemeinsamen Gesetzgebungsverfahrens verabschiedeten Parlament und Rat 2009 noch 141 Richtlinien und Verordnungen (siehe Abb. 1), 2015 waren es nur noch 56.3 Dieser Rückgang ist u. a. auch auf EU-Programme wie beispielsweise „REFIT“ und „Bessere Rechtssetzung“ zurückzuführen. Insbesondere die amtierende Juncker-Kommission setzt sich für einen Regulierungsabbau ein. So wurden im ersten Jahr ihrer Amtszeit u. a. 32 veraltete Rechtsakte abgeschafft.
Regulierungswut in Deutschland? Ein vergleichbarer Rückgang bei der nationalen Gesetzgebung ist beispielsweise in Deutschland nicht festzustellen – ganz im Gegenteil: So verabschiedete der Bundestag zwischen 1990 bis 1994 (12. Wahlperiode) ca. 126 Gesetze pro Jahr, zwischen 2009 und 2013 (17. Wahlperiode) waren es im Schnitt 138 neue Gesetze pro Jahr (siehe Abb. 2). 2015 wurden 130, 2016 sogar 148 Gesetze durch den deutschen Bundestag verabschiedet.4
Die Kommission als alleiniger Initiator? Viele gängige Beispiele, mit denen der Vorwurf der „Regulierungswut“ begründet wird, können nicht auf die Kommission zurückgeführt werden. Sie wurden von Mitgliedstaaten, Wirtschaftsverbänden oder anderen EU-Organen wie dem Parlament initiiert und dann von der Kommission vorgeschlagen. Auch wird der Vorwurf der „Regulierungswut“ oft im Zusammenhang mit EU-weiten Regeln geäußert, die nie in Kraft getreten sind (siehe Anhang). Seit 2009 haben auch die EU-BürgerInnen über die Europäische Bürgerinitiative die Möglichkeit, die Kommission zur Vorlage eines Gesetzesvorschlags im Bereich ihrer Zuständigkeit aufzufordern.
Grenzen der Regulierung: Die Aktivitäten der Europäischen Union sind durch die EU-Verträge auf bestimmte Politikfelder beschränkt. In einigen wenigen Bereichen (Zollunion, Außenhandel, Währungsunion) besitzt sie ausschließliche Rechtsetzungskompetenz, in vielen anderen Bereichen teilt sie sich die Zuständigkeit mit den Mitgliedstaaten. Dabei stellen der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung, das Subsidiaritätsprinzip und das Verhältnismäßigkeitsprinzip sicher, dass die Union nicht über die ihr von den Mitgliedstaaten zugedachten Kompetenzen und Maßnahmen hinaus geht (à Factsheet Zuständigkeiten).
Entstehung von EU-Gesetzen – nicht ohne EU-Parlament: Die Kommission verfügt über das formelle Initiativrecht, d. h. sie legt den an dem Ordentlichen Gesetzgebungsverfahren beteiligten EU-Organen Vorschläge für neue Rechtsakte vor. Das EU-Parlament und der Rat der EU sind bei Änderung und Abstimmung über die Vorschläge gleichberechtigt. Das gilt für 95 Prozent der verabschiedeten Rechtsakte.5 Lediglich hinsichtlich 5 Prozent der Rechtsakte wird mithilfe anderer Verfahren entschieden, bei denen das Parlament über abgestufte Mitwirkungsmöglichkeiten verfügt – vom Vetorecht bis zur Stellungnahme –, aber der Rat (als eine der legislativen „Kammern“ neben dem EU-Parlament) und nicht die Kommission hat das Letztentscheidungsrecht (à Factsheet EU-Demokratie 2).
Politische Verantwortung: Das EU-Parlament ist außerdem für die demokratische Kontrolle der Kommission zuständig. Durch das Recht, zu Beginn jeder Legislaturperiode die Kommission als Ganzes anzunehmen oder abzulehnen, nimmt das Parlament erheblichen Einfluss auf deren Zusammensetzung. Dies ist eine Besonderheit gegenüber Ländern wie Deutschland, wo der Bundestag dieses Recht nicht besitzt. Das EU-Parlament kann zudem durch ein Misstrauensvotum die Kommission mit einer Zweidrittelmehrheit geschlossen zum Rücktritt auffordern, falls ihre Tätigkeiten hierzu Anlass geben. Außerdem muss die Kommission dem Parlament regelmäßig Bericht erstatten und ist dazu verpflichtet, alle Anfragen von EU-ParlamentarierInnen zu beantworten. Somit ist die Kommission dem EU-Parlament gegenüber politisch verantwortlich (à Factsheet EU-Demokratie 2).6
Delegierte Rechtsakte – Kompetenzübertragung durch Parlament und Rat: Parlament und Rat können der Kommission über „delegierte Rechtsakte“ die Befugnis zur nachträglichen Ergänzung von Rechtsakten erteilen, diese Befugnis aber jederzeit widerrufen oder innerhalb einer festgelegten Frist Einwände gegen einen delegierten Rechtsakt der Kommission erheben. Über dieses Mittel können keine wesentlichen Elemente geändert, sondern nur Details ausgestaltet werden. Das Delegieren solcher Befugnisse an Exekutivinstitutionen ist auch in Deutschland gängige Praxis.
Von einer „Regulierungswut“ Brüssels kann keine Rede sein. Vielmehr kann man die Kommission als eine Art Flaschenhals sehen, der die Gesetzesvorschläge filtert und unter Berücksichtigung der Vorgaben der besseren Rechtssetzungsprogramme die aus ihrer Sicht wichtigsten dann auf den Weg bringt. Die Anzahl der vorgeschlagenen und tatsächlich verabschiedeten EU-Verordnungen und Regulierungen ist in den letzten Jahren stark gesunken.
Der Ausdruck „unkontrollierter Behördenapparat“ impliziert, dass es keinerlei interinstitutionellen Regeln und Kontrollmechanismen auf EU-Ebene gäbe. Tatsächlich sind die Abläufe des Ordentlichen Gesetzgebungsverfahren aber klar in den Verträgen geregelt.
Darüber hinaus ist die Kommission den legislativen Kammern der EU (EU-Parlament und Rat der EU) politisch verantwortlich; ein willkürliches Eingreifen der Kommission ist nicht möglich. Die Forderung der CSU, dass es keine Gesetze mehr ohne Zustimmung von Parlament und Rat geben soll, ist bereits eine Tatsache, da Parlament und Rat in alle Verfahren mit eingebunden sind und die Letztentscheidungsbefugnis haben.
Der gängige Vorwurf der „Brüsseler Regulierungswut“ wird in europaskeptischen und populistischen Diskursen häufig auch als Sinnbild für eine Art „EU-Diktat“ instrumentalisiert, wonach die EU in die Souveränität der Mitgliedstaaten eingreife. In den EU-Verträgen sind jedoch die Aktivitäten der EU durch Prinzipien wie dem der Subsidiarität klar geregelt (à Factsheet Zuständigkeiten).
Glossar
- Verordnungen und Richtlinien: Die Rechtsakte der Europäischen Union werden nach ihrer Rechtswirkung unterschieden, wobei insbesondere Verordnungen und Richtlinien relevant sind. Eine Verordnung ist ein verbindlicher Rechtsakt, der unmittelbar gilt. Eine Richtlinie ist dagegen ein Rechtsakt, in dem ein von allen EU-Ländern zu erreichendes Ziel festgelegt wird. Es ist dann Sache der einzelnen Mitgliedstaaten, eigene Rechtsvorschriften zur Verwirklichung dieses Ziels zu erlassen.
- REFIT-Programm: REFIT ist ein Programm der Kommission zur Gewährleistung der Effizienz und Leistungsfähigkeit der Rechtsetzung. Das EU-Recht soll einfacher werden und weniger Kosten verursachen. Im Arbeitsprogramm der Kommission für 2015 wurden 79 Maßnahmen zur Vereinfachung der Rechtsetzung angekündigt – darunter 10 Aufhebungen veralteter und irrelevant gewordener Rechtsakte.7
- Programm für „Bessere Rechtsetzung“: Ziel des Programms von 2002 ist es, die Entscheidungsfindung transparenter zu gestalten, die Auswirkungen von legislativen Initiativen der Kommission zu analysieren und zu überprüfen, ob eine EU-weite Gesetzgebung überhaupt erforderlich ist. 2015 hat der Erste Vizepräsident der EU-Kommission und EU-Kommissar für „Bessere Rechtssetzung, interinstitutionelle Beziehungen, Rechtstaatlichkeit und Grundrechtecharta“ Frans Timmermans ein weiteres umfangreiches Paket zum Thema „Better Regulation“ vorgelegt.8
Abb. 1: Neue Vorschläge von Rechtsakten der Kommission zwischen 2011 und 2015.
Abb. 2: Anzahl verabschiedeter Gesetze des Bundestages nach Legislaturperioden seit 1990.
Konkrete Beispiele für den Vorwurf der „Regulierungswut“
Wo finde ich diese Informationen?
1 CSU: Europaplan Bayern 2014-2019, 10.5.2014,
http://www.csu.de/programm/csu-europaplan-2014-2019/files/assets/basic-html/index.html#6-7 (letzter Zugriff: 26.1.2017).
2 Süddeutsche Zeitung: Europa aus bayerischer Sicht, 24.4.2014, http://www.sueddeutsche.de/politik/wahlprogramm-der-csu-europa-aus-bayerischer-sicht-1.1942345 (letzter Zugriff: 12.1.2017).
3 European Commission: Better Regulation: Delivering better results for a stronger Union, 14.9.2016 COM (2016) 615 final, S.3., https://ec.europa.eu/info/files/better-regulation-delivering-better-results-stronger-union_en (letzter Zugriff: 13.4.2017)
4 Deutscher Bundestag: Statistik zur Gesetzgebung, 2014, https://www.bundestag.de/blob/196202/3aa6ee34b546e9ee58d0759a0cd71338/kapitel_10_01_statistik_zur_gesetzgebung-data.pdf (letzter Zugriff: 13.4.2017);
Deutscher Bundestag: An 63 Sitzungstagen im vergangenen Jahr 148 Gesetze verabschiedet, o. D., https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2017/kw05-bundestag-zahlen/492044 (letzter Zugriff: 4.5.2017); Deutscher Bundestag: An 70 Sitzungstagen 130 Gesetze verabschiedet, o.D., https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2016/kw12-bundestag-zahlen/416182 (letzter Zugriff: 4.5.2017).
5 T. Zerres/M. Zerres: Europäisches Wirtschaftsrecht, 2015, München/Mering, S. 51.
6 Europäisches Parlament: Ordentliches Gesetzgebungsverfahren, 2016, http://www.europarl.europa.eu/external/html/legislativeprocedure/default_de.htm (letzter Zugriff: 10.1.2017).
5 T. Zerres/M. Zerres: Europäisches Wirtschaftsrecht, 2015, München/Mering, S. 51.
7 Europäische Kommission: Arbeitsprogramm der Kommission für 2015 – Ein neuer Start, COM (2014) 910 final.
8 Europäische Kommission: Agenda für bessere Rechtsetzung: Mehr Transparenz und Kontrolle für eine bessere EU-Gesetzgebung, 19.5.2015, http://europa.eu/rapid/press-release_IP-15-4988_de.htm (letzter Zugriff: 22.2.2017).
9 Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) (Hrsg.): Schlaglichter der Wirtschaftspolitik. Monatsbericht März 2013, 2013, http://www.bmwi.de/DE/Mediathek/monatsbericht,did=627360.html (letzter Zugriff: 10.1.2017).
10 W. Wobbe: Demokratie versus Eurobürokratie – Ein deutsches Trauma. In Europa am Scheideweg, Perspektivends, 2014, 31. Jg. / Heft 1, S. 53 – 63.
11 Tagesschau: Kampf den Karaffen, 17.5.2013, http://www.tagesschau.de/ausland/eu-olivenoel100.html (letzter Zugriff: 10.1.2017).
12 Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) (Hrsg.): Schlaglichter der Wirtschaftspolitik. Monatsbericht März 2013, 2013, http://www.bmwi.de/DE/Mediathek/monatsbericht,did=627360.html (letzter Zugriff: 8.12.2016).