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KONTEXT


Angesichts der ab Sommer 2015 stetig gestiegenen Zahl der nach Deutschland kommenden Flüchtlinge sowie dem angeblich mangelnden Schutz der EU-Außengrenzen fordert Jörg Meuthen den Bau eines deutschen Grenzzauns zu Österreich als „Schutzanlage“. Zudem sollen umfangreiche Grenzkontrollen durchgeführt und Asylsuchende abgewiesen werden.

Die Zahl der asylsuchenden Personen stieg in Deutschland von rund 240.000 registrierten Asylsuchenden (davon ca. 200.000 AsylbewerberInnen) im Jahr 2014 auf rund 890.000 Asylsuchende (und ca. 440.000 AsylbewerberInnen) im Jahr 2015 an. Die Verlagerung der krisenhaften Zustände von den Schengen-Außengrenzen an die Binnengrenzen hatte in mehreren Schengenstaaten (Deutschland, Österreich, Frankreich, Dänemark, Schweden, Ungarn und Norwegen) die Einführung von temporären Grenzkontrollen zur Folge.

FAKTENCHECK


Unverhältnismäßigkeit und geringe Erfolgsaussichten: Die Welt erlebt derzeit die größte Flüchtlingskrise seit dem zweiten Weltkrieg. Laut UNHCR waren im Jahr 2015 über 65 Millionen Menschen auf der Flucht. Von den Flüchtlingen unter UNHCR-Mandat fanden 86 Prozent in Entwicklungsländern Zuflucht, insbesondere in Pakistan, Jordanien und im Libanon.2 Angesichts dieser globalen Herausforderung erscheint ein Grenzzaun um Deutschland unverhältnismäßig. Eine Binnengrenzschließung lindert darüber hinaus nicht den Abwanderungsdruck in den Staaten, aus denen Schutzbedürftige fliehen – eine Verringerung der Flüchtlingszahlen ist damit nicht zu erreichen.

Mangelnde Notwendigkeit: Die hohen Zugangszahlen nach Deutschland im Herbst 2015 gehen auf die Entscheidung der Bundesregierung zurück, angesichts des massiven Zustroms nach Europa einigen Asylsuchenden den Weg nach Deutschland zu ermöglichen – und nicht etwa auf einen angeblichen Kontrollverlust, dem mit einem Grenzzaun entgegengewirkt werden könnte. Seit Herbst 2015 ist die Zahl der in Griechenland und Italien ankommenden Flüchtlinge stark rückläufig3 und auch in Deutschland werden seit Dezember immer weniger Asylsuchende erstregistriert (bis September waren es im Jahr 2016 nur 270.000).4 Dies ist v.a. auf bisherige EU-Maßnahmen zurückzuführen, wie u.a. die FRONTEX-Missionen Triton und Poseidon zum Schutz der EU-Außengrenzen und -Küsten sowie das EU-Türkei-Abkommen zur Rücknahme und zum Austausch von Flüchtlingen (siehe Factsheets Abschotten und 1:1-Mechanismus). Das verdeutlicht, dass koordinierte EU-Maßnahmen an den EU-Außengrenzen ein wirksames Mittel zur Begrenzung der Flüchtlingszahlen sind.

Rechtliche und individuelle Auswirkungen: Dies hätte weitreichende Einschränkungen der Rechte von UnionsbürgerInnen zur Folge, denn die Schließung der Grenzen stellt Grundfreiheiten wie das Recht auf Freizügigkeit und die Reisefreiheit infrage. Durch die Wiedereinführung von Passkontrollen würde es zudem zu langen Wartezeiten an Grenzübergängen kommen. Dies betrifft v.a. die ca. 1,7 Mio. PendlerInnen in Europa, die in einem anderen Schengenstaat arbeiten und mind. einmal wöchentlich die Grenze überqueren.5

Wirtschaftliche Auswirkungen: Die wirtschaftlichen Kosten wären immens, da die Schließung der europäischen Binnengrenzen die EU jährlich bis zu 18 Mrd. Euro kosten würde. Insbesondere Unternehmen aus Deutschland, der größten Exportnation der EU, müssten mit deutlichen Mehrkosten aufgrund von Grenzschließungen rechnen. Grenzen würden den europäischen Binnenhandel verteuern, was wiederum zu Lasten der privaten Haushalte ginge. Einbußen sind auch für die Tourismusbranche gerade in grenznahen Regionen zu erwarten. Zudem wären Investitionen in die Grenzinfrastruktur notwendig, welche zusätzliche Anschaffungs- und Verwaltungskosten verursachen würden. Auch die „Gegenrechnung“ greift nicht: Die Unterbringung und Integration von Flüchtlingen sind zwar kostenintensiv, wirken kurzfristig aber laut dem Institut der deutschen Wirtschaft als „kleines Konjunkturprogramm“6 mit unmittelbaren positiven Auswirkungen auf die deutsche Volkswirtschaft. Darüber hinaus handelt es sich bei Unterbringungs- und Integrationskosten um eine Zukunftsinitiative mit möglichen langfristigen Impulsen für den Arbeitsmarkt sowie potenziell positiven Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum und den demographischen Wandel.7

Rechtliche Machbarkeit: Allein rechtlich wäre die Errichtung von Grenzzäunen nicht umsetzbar: Die vollständige Schließung der Grenzen ist im Schengener Regelwerk auch in Notsituationen rechtlich nicht vorgesehen. Selbst die Kontrolle von Binnengrenzen ist nur temporär für maximal sechs Monate unter außergewöhnlichen Umständen möglich.8Auch die Abweisung von Asylsuchenden an den Grenzen ist nicht rechtens, denn damit würde Deutschland gegen nationales Recht und Völkerrecht verstoßen. In Artikel 16 a des deutschen Grundgesetzes ist dieses Recht auf Asyl und somit das Prinzip der Nichtzurückweisung als Grundrecht verankert. Deutsche Grenzbeamte sind angehalten, schutzbedürftige Personen, die auf der Flucht vor Verfolgung in einem fremden Staat einen Asylantrag stellen möchten, einreisen zu lassen und Schutz zu gewähren. Dies ist ebenso in der Genfer Flüchtlingskonvention, welche Deutschland unterzeichnet hat, festgelegt.

Praktische Machbarkeit: Auch eine praktische Umsetzung ist kurzfristig nicht durchführbar: Die deutsch-österreichische Grenze hat eine Länge von über 800 km. Für die vollständige Sicherung eines Zauns z. B. zu Österreich – auch an der sogenannten Grünen Grenze – verfügt die Polizei derzeit nicht über genügend Personal. Intensive Grenzkontrollen wären nur für einen Zeitraum von ca. drei Wochen zu leisten, und das auch nur an den Grenzübergängen. Allein in den letzten Monaten des Jahres 2015 häuften GrenzbeamtInnen schon ca. 2 Millionen Überstunden an und sind oft überlastet. Auch die geplante Aufstockung des Grenzschutzes um 3.000 Stellen kann nur mittelfristig Erfolge zeigen, da die neuen GrenzbeamtInnen frühestens in drei Jahren einsatzfähig wären. Selbst wenn die deutsch-österreichische Grenze geschlossen werden könnte, blieben die Erfolgsaussichten einer solchen Abschottung weiterhin unsicher, da Einreisewege von Asylsuchenden volatil sind.

Symbolwirkung: Der Bau eines Grenzzauns wäre ein unrühmlicher Präzedenzfall, da bisher in keinem Fall Grenzen zwischen Schengenstaaten komplett geschlossen wurden. Ungarn hat seine Zäune an den Schengen-Außengrenzen zu Serbien und Kroatien errichtet. Österreich hat an der 330 km langen Grenze zu Slowenien einen ca. 3,7 km langen Zaun gebaut. Diese Maßnahmen führten jedoch nur zu einer kurzfristigen Umlenkung der Flüchtlingsbewegungen. In Deutschland ruft die Befestigung einer Grenze darüber hinaus negative Assoziationen hervor, die an Narrative der deutsch-deutschen Mauer anknüpfen.


Die AfD rechtfertigt die Forderung nach einem Grenzzaun mit dem angeblichen Versagen der EU. Meuthen weist zwar darauf hin, dass ein Grenzzaun nicht alle Probleme lösen könne, stellt ihn jedoch als wirkungsvolle Maßnahme für die einzelnen Mitgliedstaaten dar, da von der passiven EU keine Lösungen zu erwarten seien. Dabei verkennt er die zu diesem Zeitpunkt bereits geschehenen ersten Reformschritte der EU wie z. B. der verstärkte Schutz der Schengen-Außengrenzen und eine Quote, die Asylsuchende auf alle Mitgliedstaaten je nach ihren Aufnahmekapazitäten verteilen soll (siehe Factsheet Lastenteilung).

Nationalstaatliches Handeln, bei dem Flüchtlinge unkoordiniert weitergeleitet werden – mittels Durchwinken oder Abweisen – löst weder die Frage nach dem Umgang mit Geflüchteten, noch geht es die Fluchtursachen an.

Der Bau eines Grenzzauns zu Österreich ist eine sehr vereinfachte Forderung, die nicht zu Ende gedacht ist und die Probleme Deutschlands in der Flüchtlingskrise nur verlagern und verzögern würde. Der derzeitige Migrationsdruck ist so groß, dass ein einzelner Grenzzaun keine adäquate Lösung für eine europaweite und globale Herausforderung sein kann.

Meuthens Forderung nach einem Grenzzaun, flankiert mit Begrifflichkeiten wie „Schutzanlage“ oder „unkontrollierter Massenzustrom“, schürt Misstrauen bei BürgerInnen und bedient europaskeptische Ressentiments wie das Motiv des Kontrollverlusts im Zuge der europäischen Integration. Diese Darstellung unterminiert eine objektive und nuancierte Auseinandersetzung mit der zweifelsohne komplexen Thematik.

Wo finde ich diese Informationen?

1. Pressemitteilung der Alternative für Deutschland: Meuthen: Deutschland braucht einen Grenzzaun, 19.10.2015, https://www.alternativefuer.de/meuthen-deutschland-braucht-einen-grenzzaun/ (letzter Zugriff: 22.2.2017).

2. UNHCR: Global Trends. Forced Displacement in 2015, 20.6.2016, http://www.unhcr.org/576408cd7.pdf (letzter Zugriff: 1.12.2016).

3. Europäische Kommission: Flüchtlingskrise in Europa, 20.6.2016.
http://ec.europa.eu/echo/refugee-crisis_en (letzter Zugriff: 3.8.2016);
Europäische Kommission: Die Europäische Migrationsagenda, 13.5.2015, http://europa.eu/rapid/press-release_IP-15-4956_de.htm (letzter Zugriff: 22.2.2017);
Europäische Kommission: Das Gemeinsame Europäische Asylsystem, 2014, http://ec.europa.eu/dgs/home-affairs/e-library/docs/ceas-fact-sheets/ceas_factsheet_de.pdf (letzter Zugriff: 3.8.2016).

4. Pressemitteilung des Bundesministerium des Innern: 396.947 Asylanträge im ersten Halbjahr 2016,
8.7.2016, http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2016/07/asylantraege-juni-2016.html?nn=3314802 (letzter Zugriff: 3.8.2016);
Bundeszentrale für politische Bildung: Zahlen zu Asyl in Deutschland, 16.2.2017
http://www.bpb.de/politik/innenpolitik/flucht/218788/zahlen-zu-asyl-in-deutschland (letzter Zugriff: 22.2.2017).

5. Bruegel: Die Relevanz des Schengenraums im Kontext von Pendlerstatistiken, 3.12.2015,
http://bruegel.org/2015/12/cross-border-commuters-and-trips-the-relevance-of-schengen/ (letzter Zugriff: 22.2.2017).

6. Rheinische Post: IW-Chef sieht in Flüchtlingskrise „kleines Konjunkturprogramm“, 8.10.2015:
http://www.presseportal.de/pm/30621/3141934 (letzter Zugriff: 22.2.2017).

7. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung e.V.: Gemeinschaftsprognose der führenden deutschen Wirtschaftsinstitute von Herbst 2015, 6.10.2015:
www.diw.de/documents/dokumentenarchiv/17/diw_01.c.516202.de/20151008_gd_herbst_gutachten.pdf (letzter Zugriff: 22.2.2017).

8. Siehe Artikel 23-26 der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex).
http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32006R0562&from=DE (letzter Zugriff: 03.08.2016);
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Asylrecht,
http://www.bamf.de/DE/Migration/AsylFluechtlinge/Asylrecht/asylrecht-node.html (letzter Zugriff: 03.08.2016).

Europäische Kommission: Mitteilung an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat und den Rat:
Zurück zu Schengen – ein Fahrplan,4.3.2016,
http://ec.europa.eu/dgs/home-affairs/what-we-do/policies/borders-and-visas/schengen/docs/communication-back-to-schengen-roadmap_de.pdf (letzter Zugriff: 3.8.2016); Europäische Kommission: Vorschläge über einen Fahrplan für die Wiederherstellung des Schengen-Systems, 4.3.2016, http://europa.eu/rapid/press-release_IP-16-585_en.htm (letzter Zugriff: 22.2.2017).

Eurostat: Asyl-Statistiken, 2016,
http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Asylum_statistics (letzter Zugriff: 22.2.2017).

FRONTEX: Report zu Migrationszahlen an den Europäischen Außengrenzen, Q4 2015, 3.2016,
http://frontex.europa.eu/assets/Publications/Risk_Analysis/FRAN_Q4_2015.pdf (letzter Zugriff: 22.2.2017).