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KONTEXT


Am 14. und 22. September 2015 hat der Rat der EU durch Mehrheitsentscheidungen die Umverteilung von insgesamt 160.000 Schutzbedürftigen aus Griechenland und Italien auf die anderen Mitgliedstaaten beschlossen. Alice Weidel von der AfD kritisiert das Handeln der Bundesregierung und Europas als konzeptionslos und inkompetent. Ihrer Einschätzung nach ist der europäische Umverteilungsansatz in Form von „Quoten“ und „Kontingenten“ zur Lösung der unkontrollierten Migration nach und in Europa eine „Farce“.

Seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien 2011 stieg die Zahl der AsylbewerberInnen in der EU stark an (allein Deutschland registrierte 2015 etwa 890.000 Asylsuchende, 2014 waren es noch 238.676).2 Damit drohte im Jahr 2015 das Dublin III-System zusammenzubrechen, da zum einen viele Asylsuchende nicht registriert werden konnten und zum anderen die Rückführung von abgelehnten AsylbewerberInnen in die Einreisestaaten nicht hinreichend durchgeführt werden konnte.

FAKTENCHECK


Deutsche Handlungsmaximen: Die bisherigen Handlungsmaximen der Bundesregierung sind zum einen eine humanitäre Asylpolitik, die sich am Schutz der Flüchtlinge ausrichtet, und zum anderen der Erhalt von zentralen Errungenschaften der EU, also etwa den offenen Binnengrenzen.

Konkrete Konzepte der Bundesrepublik: Darüber hinaus reagiert die Bundesregierung durchaus mit politischen Konzepten. Dazu gehören der Schutz der EU-Außengrenzen und eine enge Zusammenarbeit mit der Türkei. Diese Konzepte spiegeln sich auch zu einem großen Teil in der EU-Agenda für Migration vom Mai 2015 wider. Ziel dieser ist es, ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem zu verwirklichen. Als Maßnahmen wurden hierfür engere externe Kooperationen (z. B. mit der Türkei), verstärkter Grenzschutz, die Reform des Dublin-Systems, die Schaffung von legalen Zuwanderungsmöglichkeiten sowie Umverteilungsregelungen festgelegt. Konkrete Vorschläge zur weiteren Vereinheitlichung von Asylverfahren und -kriterien sowie den Aufnahmebedingungen stellte die EU-Kommission am 13. Juli 2016 vor. Über diese wird im EU-Parlament und im Rat abgestimmt werden.3

Die EU-Türkei-Erklärung: Die Bundesregierung suchte sich außerhalb der Beschlüsse des Europäischen Rates Verbündete – darunter Belgien, die Niederlande, Luxemburg, Schweden, Slowenien, Portugal, Frankreich und Griechenland –, um eine verstärkte Zusammenarbeit mit der Türkei zu erreichen. Daraus entstand die EU-Türkei-Erklärung von Mitte März 2016, laut dem die Türkei zum einen illegale Grenzübertritte nach Möglichkeit verhindert und zum anderen illegal nach Griechenland eingereiste Flüchtlinge wieder zurücknimmt. Im Gegenzug erhält sie finanzielle Unterstützung in Milliardenhöhe zur Versorgung der sich in der Türkei befindlichen Flüchtlinge.4 Zusätzlich greift der 1:1-Mechanismus (siehe Factsheet 1:1-Mechanismus), laut dem sich die Zahl der von der EU aufgenommenen Flüchtlinge um die Zahl der von der Türkei zurückgenommenen Flüchtlinge erhöht. Vorrangiges Ziel dieses Abkommens war es, das Betreten der EU auf irregulärem Wege möglichst unattraktiv zu machen und sichere und reguläre Zuwanderungswege zu schaffen.

Erläuterung der Umverteilung: Die Umverteilung nach den Ratsbeschlüssen orientiert sich an objektiven und quantifizierbaren Kriterien, welche die Aufnahmekapazität eines jeden EU-Staats reflektieren. Sie berücksichtigen die Bevölkerungsstärke, das Bruttoinlandsprodukt (BIP), die durchschnittliche Anzahl der Asylanträge, die Anzahl neu angesiedelter Flüchtlinge und die Arbeitslosenquote eines jeden EU-Staats. Die Verteilung der Flüchtlinge im Rahmen des EU-Türkei-Abkommens beruht hingegen auf Freiwilligkeit.5

Reform des Dublin-Systems: Zur Ergänzung der obigen Maßnahmen hat die EU-Kommission im Frühjahr 2016 langfristige Reformpläne für das Dublin-System vorgestellt, die von den EU-Staaten noch abgestimmt werden müssen. Ein sog. „Fairness-Mechanismus“ soll auf einem nationalen Index aus Bevölkerungsgröße und BIP basieren und wird ausgelöst, sobald die Zahl der Asylsuchenden über 50% des Referenzwertes des jeweiligen Mitgliedstaates liegt. Danach werden alle weiteren Personen automatisch auf andere Länder verteilt. Verweigerungen durch einzelne EU-Staaten sollen geahndet werden, beispielsweise mit hohen Geldstrafen.

EU-Maßnahmen gegen „Sekundärbewegungen“: Die AfD unterstellt, dass die Umverteilung eine Farce sei, weil es keinen Grund zur Annahme gebe, dass die Schutzsuchenden sich an die vorgesehene Verteilung halten werden. Stattdessen würden diese in eigener Regie in das Land ihrer Wahl weiterziehen. Die Kommission ist sich der Gefahr solcher Sekundärbewegungen bewusst und koppelt daher in ihren Vorschlägen von Juli 2016 den Asylstatus von Schutzsuchenden und ihre Versorgung über die Sozialsysteme an einen Aufenthalt im jeweils zugeteilten EU-Staat.

EU-Entscheidung zur Umverteilung: Eine Konsensfindung zwischen 28 verschiedenen EU-Staaten ist zwar sehr schwierig, der rechtliche Rahmen der EU ermöglicht es aber, Entscheidungen im Rat mit qualifizierter Mehrheit zu treffen. Das ist im Fall des Umverteilungs-Beschlusses vom 22. September 2015 auf der Basis des Artikels 78(3) des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union geschehen (siehe Factsheet Lastenteilung). Diese Strategie von Mehrheitsentscheidungen kann in politischer Hinsicht schwierige Konsequenzen haben. So haben die Slowakei und Ungarn im Dezember 2015 eine Klage gegen die Umverteilung beim Europäischen Gerichtshof eingereicht.6

Reformstau: Man kann der EU und den Mitgliedstaaten vorwerfen, dass sie erst spät auf die sich verschärfende globale Flüchtlingskrise reagiert haben. Schon lange hatten Menschenrechtsorganisationen und Südstaaten wie Griechenland und Italien die Unzulänglichkeiten des Dublin-Systems bemängelt. Auch Deutschland hatte europäische Lösungen wie gemeinsame Grenzsicherung oder Verteilungsquoten lange Zeit abgelehnt und das Problem den äußeren Ländern überlassen (siehe Factsheet Lastenverteilung).7 In dieser Hinsicht verhielt sich die EU-Kommission unter Juncker vorausschauender, weil sie nach Amtsantritt im Juli 2014 das Thema Migration auf die Agenda stellte und bereits früh Umverteilungspläne entwickelte. Für den großen Wurf fehlte es aber lange Zeit an politischem Willen.

Umsetzungsprobleme: Es muss festgehalten werden, dass die Umsetzung der Umverteilung wie auch der EU-Türkei-Erklärung (siehe Factsheet 1:1-Mechanismus) nur langsam anläuft. Bis zum 8. Dezember 2016 wurden von den vorgesehenen 160.000 nur 1.950 Flüchtlinge aus Italien und 6.212 aus Griechenland umverteilt. Aus der Türkei wurden seit dem 4. April lediglich 2.761 syrische Flüchtlinge in insgesamt 21 EU-Ländern und Norwegen aufgenommen.8 Dies liegt zum einen daran, dass einige Staaten nicht die bei der Umverteilung versprochenen Plätze für Flüchtlinge bereitstellen. Zum anderen hinken Griechenland und Italien bei der für die Umverteilung nötigen Registrierung der Flüchtlinge auch aufgrund von fehlenden Mitteln hinterher. Die pauschale Bezeichnung der Bundesregierung und Europas als „inkompetent“ ist unangebracht, da die Umsetzungsprobleme der Verteilungsbeschlüsse weniger mit fehlender Kompetenz, sondern vielmehr mit fehlendem politischen Willen zusammenhängen.


Weidels Generalvorwurf, dass die Bundesregierung und Europäische Union konzeptionslos handeln würden, ist nicht haltbar. Denn auch wenn es bei der Umsetzung der Quotenregelung zu Problemen kam, deutet dies nicht auf eine generelle Konzeptionslosigkeit hin – schließlich ist die Quotenregelung ein Konzept. Außerdem ist sie nicht alleiniger Bestandteil des übergreifenden Migrationskonzepts der EU: Während das EU-Türkei-Abkommen von März 2016 die Quotenregelungen ergänzt, zielen die Kommissionsvorschläge vom Juli 2016 auf die Vollendung eines einheitlicheren und effizienteren Asylsystems ab.

Dass es bei Entscheidungsfindungsprozessen abweichende Meinungen zu den richtigen Lösungswegen gibt, die in einen Wettstreit miteinander treten, ist dabei nicht als Inkompetenz zu werten. Vielmehr stellt dies eine normale und selbstverständliche Herausforderung demokratischen Handelns dar. Auch sind anfängliche Umsetzungsprobleme beispielsweise bei der Umverteilung von Schutzsuchenden beim koordinierten Handeln von 28 Staaten durchaus erwartbar. Der Vorwurf der Inkompetenz durch PopulistInnen und EU-KritikerInnen greift daher zu kurz und fokussiert einseitig auf Probleme, ohne Fortschritte zu berücksichtigen.

Das Handeln der Bundesregierung folgt der Leitidee einer humanitären Asylpolitik und ist daher zwar streitbar, aber nicht konzeptionslos. Nichtdestotrotz gibt es im Einzelfall auch Probleme, die durch ein zu langes Zögern der politischen EntscheidungsträgerInnen verursacht oder verstärkt wurden. Hier sei auf den schleppenden, nicht zuletzt durch Deutschland herausgezögerten, Reformprozess des Dublin-Systems verwiesen.

Unklar ist, was Weidel mit „Europa“ meint. Durch die Vermeidung einer näheren Bestimmung bzw. Unterscheidung zwischen den verschiedenen EU-Institutionen und den Mitgliedstaaten mit ihren einzelnen nationalstaatlichen Interessen macht die AfD einen diffusen Generalvorwurf. Mit ihren verkürzenden Aussagen zeichnet die AfD ein undifferenziertes Bild der Problematik und versäumt es dabei, konkrete Handlungsalternativen aufzuzeigen.

Wo finde ich diese Informationen?

1. Pressemitteilung der Partei Alternative für Deutschland: „Kontingente“ und „Quoten“ – eine Farce!, 20.9.2015, https://www.alternativefuer.de/weidel-kontingente-und-quoten-eine-farce/ (letzter Zugriff 3.8.2016)

2. Bundeszentrale für politische Bildung: Zahlen zu Asyl in Deutschland, www.bpb.de/politik/innenpolitik/flucht/218788/zahlen-zu-asyl-in-deutschland (letzter Zugriff: 3.8.2016);
Eurostat: Statistiken zu Asyl, http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Asylum_statistics (letzter Zugriff: 3.8.2016).

3. Europäische Kommission: Vollendung der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, 13.7.2016, http://europa.eu/rapid/press-release_IP-16-2433_de.htm (letzter Zugriff: 22.2.2017).

4. Europäische Kommission: Fazilität für Flüchtlinge in der Türkei, http://ec.europa.eu/dgs/home-affairs/what-we-do/policies/european-agenda-migration/background-information/docs/20160420/factsheet_financing_of_the_facility_for_refugees_in_turkey_de.pdf (letzter Zugriff: 22.2.2017).

5. Zeit Online: Was im Türkei-Deal steht – und was nicht, 18.3.2016, www.zeit.de/politik/ausland/2016-03/eu-gipfel-tuerkei-abkommen-fluechtlinge-angela-merkel (letzter Zugriff: 22.2.2017).

6. Zeit Online: Ungarn reicht Klage gegen EU-Flüchtlingsquote ein, 3.12.2015, www.zeit.de/politik/ausland/2015-12/europaeischer-gerichtshof-ungarn-klage-fluechtlingsquote (letzter Zugriff: 3.8.2016);
EurActiv: Slowakei klagt vor EuGH gegen Flüchtlingsquote, 2.12.2015, abrufbar unter: www.euractiv.de/section/eu-innenpolitik/news/slowakei-klagt-vor-eugh-gegen-fluchtlingsquote (letzter Zugriff: 3.8.2016).

7. Tagesschau.de: Merkel räumt Versäumnisse ein, 31.8.2016, http://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-211675.html (letzter Zugriff: 7.12.2016).

8. Europäische Kommission zum Stand von Umverteilung und Neuansiedlung in der EU, 8.12.2016, https://ec.europa.eu/home-affairs/sites/homeaffairs/files/what-we-do/policies/european-agenda-migration/proposal-implementation-package/docs/20161208/eighth_report_on_relocation_and_resettlement_en.pdf (letzter Zugriff: 22.12.2017).

Bundesamt für Migration und Flüchtlinge:

• Aktuelle Zahlen zu Asyl, www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Infothek/Statistik/Asyl/aktuelle-zahlen-zu-asyl-juni-2016.html?nn=7952222 (letzter Zugriff: 3.8.2016)
• Das Bundesamt in Zahlen 2015, http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Broschueren/bundesamt-in-zahlen-2015-asyl.pdf;jsessionid=CC9E1BCAA41DC733CC5650963935DCF1.1_cid294?__blob=publicationFile (letzter Zugriff: 3.8.2016).