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KONTEXT
Diese Aussage von Frauke Petry ist eine Reaktion auf einen formalen Beschluss bzw. eine Ankündigung des Rats der EU „Justiz und Inneres“ im September 2015. Diese betraf die Umverteilung von insgesamt 160.000 international schutzbedürftigen Personen, die sich in Italien und Griechenland aufgehalten haben (Beschlüsse der Sondertreffen am 14. September 2015 über 40.000 sowie am 22. September 2015 über 120.000 Schutzbedürftige). Da Deutschland „immer bereitwillig Zugeständnisse“ in der Flüchtlingsproblematik mache, die Petry als „chaotische Massenzuwanderung nach Europa“1 charakterisiert, übernehme es ihrer Logik zufolge den Großteil der Lasten.
Mit den Ratsbeschlüssen reagierten die Ratsminister aus den EU-Staaten auf die seit 2015 zunehmend krisenhaften Zustände in der europäischen Flüchtlingspolitik. Ursache ist der starke Anstieg der Flüchtlings- und Asylbewerberzahlen v.a. an den Außengrenzen und in bestimmten Mitgliedstaaten der EU – in Deutschland wird ein Rekordwert von etwa 890.000 Asylsuchenden für 2015 verzeichnet.2 Überforderte Behörden und unzumutbare Bedingungen bei der Erstaufnahme in einzelnen EU-Staaten wie z. B. Griechenland sowie die zeitweise Aussetzung der Dublin-III-Verordnung durch mehrere EU-Mitgliedstaaten und Grenzschließungen waren die Folge.
FAKTENCHECK
Deutsche Blockade einer „Dublin“-Reform: Auch Deutschland hat eine Reform des Dublin-Systems jahrelang blockiert. Gemäß der Dublin-Verordnung müssen AsylbewerberInnen in dem Land ihren Antrag auf Asyl stellen, in dem sie zum ersten Mal die EU betreten haben. Davon profitieren insbesondere Staaten wie Deutschland, die in der Mitte Europas liegen. Länder mit EU-Außengrenzen wie Italien, Griechenland oder Ungarn sind hingegen überdurchschnittlich gefordert. Eine tiefgreifende Reform dieses Systems fordert die deutsche Bundesregierung erst seit der eigenen Mehrbelastung ab dem Jahr 2015.
Deutschlands Verstoß gegen „Dublin“: Deutschland selbst hat 2015 gegen die Dublin-Regelungen verstoßen, indem eine hohe Zahl einreisender Schutzsuchender nicht von den deutschen Behörden registriert wurde. Dies machte eine Weiterreise der Flüchtlinge in andere Schengenstaaten (v.a. nach Skandinavien) möglich.3
Unübliche Entscheidungsfindung in der EU: Deutschland hat bei der Beschlussfassung vom 22. September 2015 auf die qualifizierte Mehrheit hingewirkt.4 Dies ist gemäß Artikel 78(3) AEUV formal rechtens. Gleichzeitig ist es in Angelegenheiten des gemeinsamen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in der politischen Praxis bisher ein unübliches Vorgehen – in der Vergangenheit sind diesbezüglich in der Regel Konsensbeschlüsse zwischen den EU-Staaten gesucht worden. Hier zeigt sich also die Bereitschaft Deutschlands, sein nationales Interesse auch auf Kosten anderer Mitgliedstaaten durchzusetzen – und nicht immer bereitwillig Zugeständnisse zu machen.
Rechtliche Grundlage und Interessen Deutschlands: Deutschland hat zwar Rückführungen von denjenigen AsylbewerberInnen ausgesetzt, deren EU-Ersteintritt in Griechenland registriert worden ist. Dies stellt aber kein alleiniges Zugeständnis Deutschlands dar: Mit der Aussetzung hält sich Deutschland – wie auch alle anderen EU-Staaten – lediglich an ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von 2011, das aufgrund der desolaten humanitären Situation in Griechenland gesprochen wurde. Deutschland hat ein Interesse daran, Italien und Griechenland in der Bewältigung der Migrationskrise durch eine gesamteuropäische Initiative zu unterstützen. Das Dublin-System, der Binnenmarkt und die Reisefreiheit können nur bewahrt werden, wenn die Mittelmeerländer in der Lage sind, die europäischen Außengrenzen zu schützen (siehe Factsheet „Grenzzaun“). Sie stoßen hierbei aber an ihre Belastungsgrenzen, weshalb eine EU-weite Unterstützung Italiens und Griechenlands bei der Kontrolle der Seewege, der Erstaufnahme sowie der Flüchtlingsversorgung notwendig ist.
Statistischer Kontext: Betrachtet man die Asylantragszahlen der vergangenen Jahre, fällt Deutschland nicht als größter „Lastenträger“ auf. In den Jahren 2008 bis 2012 befand sich Deutschland – gemessen an Asylanträgen pro Einwohner – etwa im EU-Mittel. Seit 2013 wurden zwar überdurchschnittlich viele Asylanträge gestellt; im EU-weiten Vergleich lag Deutschland aber weiterhin hinter Ländern wie Schweden, Österreich oder Ungarn zurück. Erst seit der ersten Hälfte des Jahres 2016 belegt Deutschland im EU-Vergleich mit etwa 4,5 Asylanträgen pro 1.000 EinwohnerInnen tatsächlich den ersten Platz (Österreich: 2,9; Ungarn: 2,2). Der Blick in die Statistik verrät aber, dass dies eine Ausnahme darstellt (siehe Abbildung 1 im Anhang).
Erläuterung der Umverteilungs-Regelung: Die Umverteilungsquoten vom 14. und 22. September 2015 richten sich nach objektiven, quantifizierbaren und überprüfbaren Kriterien, die die Aufnahmekapazität der einzelnen EU-Staaten widerspiegeln: die Bevölkerungsstärke, das Bruttoinlandsprodukt (BIP), die durchschnittliche Anzahl der Asylanträge und der neu angesiedelten Flüchtlinge sowie die Arbeitslosenquote. Die Umverteilung erfolgt proportional, das heißt auf Basis der den Kriterien entsprechenden verfügbaren Kapazitäten eines jeden EU-Lands – Deutschland als Spitzenreiter in diesen Kriterien trägt dementsprechend seinen Teil der „Lasten“.
Zentrales Anliegen der verkürzten und teils auf Falschbehauptungen beruhenden Aussage ist das Schüren von Angst vor einer „chaotischen Massenzuwanderung“, deren Haupt-„Lasten“ – womit Petry nebenbei Schutz suchende Menschen abwertet –Deutschland angeblich „immer“ und „bereitwillig“ übernehme. Neben dieser Falschdarstellung instrumentalisiert sie zudem ein gängiges Vorurteil zur Rolle Deutschlands als vornehmlicher „Lastenträger“ in der EU (siehe Factsheet Goldesel).
Statistiken zu Asyl in der EU von Eurostat: http://ec.europa.eu/eurostat/web/asylum-and-managed-migration/data/main-tables (letzter Zugriff: 30.11.2016).
Im Jahr 2015 wurden 476.510 Asylanträge (2014: 202.640) in Deutschland verzeichnet, es erreichten jedoch etwa 890.000 Asylsuchende das Land (Zahlen von Eurostat bzw. BAMF). In der ersten Jahreshälfte 2016 lag die Zahl der Asylanträge bei 361.710 (Eurostat), während die Zahl der Zugänge an Asylsuchenden mit 272.185 bis Ende September (BAMF) merklich zurückging. In der Öffentlichkeit werden verschiedene Begriffe oftmals durcheinander geworfen. Folgende Definitionen können begriffliche Klarheit schaffen:
Asylberechtigte im Sinne des Artikels 16a Grundgesetz bzw. Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention sind Personen, für die ein Staat offiziell anerkannt hat, dass sie schutzbedürftig sind.
AsylbewerberInnen sind Asylsuchende, die in einem fremden Land einen Asylantrag gestellt haben und die bereits von den Behörden registriert worden sind.
Asylsuchende sind Personen, die aus einem Land vor Verfolgung fliehen, um dann in einem für sie sicheren fremden Land Asyl zu suchen. Sie haben entweder noch keinen Antrag gestellt oder sind noch nicht von den örtlichen Behörden registriert worden.
Wo finde ich diese Informationen?
1. Pressemitteilung der Partei Alternative für Deutschland: EU versagt erneut – Aus Brüssel ist keine Lösung des Asylchaos zu erwarten, 15.9.2015, https://www.alternativefuer.de/petry-eu-versagt-erneut-aus-bruessel-ist-keine-loesung-des-asylchaos-zu-erwarten/ (letzter Zugriff: 3.8.2016).
2. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: 476.649 Asylanträge im Jahr 2015, ausdifferenzierte Auflistung nach Monat und Herkunftsland, 6.1.2016,
https://www.bamf.de/SharedDocs/Meldungen/DE/2016/201610106-asylgeschaeftsstatistik-dezember.html (letzter Zugriff: 22.2.2017);
Bundesministerium des Innern: 890.000 Asylsuchende im Jahr 2015, 30.9.2016,
http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2016/09/asylsuchende-2015.html
(letzter Zugriff: 22.2.2017).
3. Torsten Albig im Interview mit Die Welt: „Wir haben 60.000 Flüchtlinge durchreisen lassen“, 19.12.2015, http://www.welt.de/politik/deutschland/article150137132/Wir-haben-60-000-Fluechtlinge-durchreisen-lassen.html (letzter Zugriff: 3.8.2016).
4. Gemeinsame Erklärung von Frankreichs Innenminister Bernard Cazeneuve und Bundesinnenminister Thomas De Maizière nach dem Rat für Justiz und Inneres, 22.9.2015,
http://tvnewsroom.consilium.europa.eu/event/extraordinary-justice-and-home-affairs-council-22-september-2015/dclaration-conjointe-gemeinsames-statement-fr-de2 (letzter Zugriff: 3.8.2016);
Süddeutsche Zeitung: Der Zorn der Überstimmten, 23.9.2015,
http://www.sueddeutsche.de/politik/eu-innenministerrat-der-zorn-der-ueberstimmten-1.2661392 (letzter Zugriff: 3.8.2016).