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KONTEXT


Im Mai 2015 tourte der britische Premierminister David Cameron durch Europa, um für seine EU-Reformvorschläge zu werben. Als damaliger Bundessprecher der AfD und als Mitglied des Europäischen Parlaments befürwortete und unterstützte Bernd Lucke die Anstrengungen Camerons, denn die Europäische Union (EU) müsse „an Haupt und Gliedern reformiert werden“. Auch mahnte Lucke: „Die Mitgliedstaaten sind souverän und nichts kann sie daran hindern, sich Kompetenzen und Rechte aus Brüssel zurückzuholen“.

Nach seiner Wiederwahl zum Premierminister bemühte sich Cameron um eine Reform des britischen Status in der Europäischen Union. Seine Forderungen für Neuverhandlungen der britischen EU-Mitgliedschaft verstand Cameron als Gewinn für die gesamte EU und bekam dafür auch Zustimmung von AfD-Mitgliedern im Europaparlament, die dort mit den britischen Konservativen in einer Fraktion zusammenarbeiteten.

FAKTENCHECK


EU-Verträge: Die EU-Verträge wurden im Laufe der europäischen Integration im Rahmen zahlreicher multilateraler Verhandlungen gemeinsam von den Regierungen aller Mitgliedstaaten ausgearbeitet und schließlich von den nationalen Parlamenten oder durch Referenden ratifiziert. Die so entstandenen Verträge, heute der Vertrag über die Europäische Union (EUV)² und der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)³, regeln die Verteilung der Zuständigkeiten der EU zwischen nationalen und europäischen Institutionen (à Factsheet EU-Regulierung).

Kompetenz-Kompetenz4 bei den Mitgliedstaaten: Die Befugnis, politische Zuständigkeiten zuzuweisen oder zu verändern, wird im Staatsrecht als „Kompetenz-Kompetenz“ bezeichnet. In der EU liegt die Kompetenz-Kompetenz ausschließlich bei den Mitgliedstaaten. Die Union ist demnach kein Bundesstaat wie etwa die Bundesrepublik Deutschland.

Begrenzte Zuständigkeit der EU: Im Artikel 5 des EUV sind drei Prinzipien verankert, die die Ausübung der Zuständigkeiten der EU beschränken und regeln (à Factsheet EU-Regulierung).

  • Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung: Gemäß diesem Prinzip dürfen EU-Institutionen nur in den Politikbereichen tätig werden, die ihnen vertraglich durch die Mitgliedstaaten zugewiesen wurden. In den Artikeln 2 bis 6 des AEUV werden im Wesentlichen drei Zuständigkeitsbereiche unterschieden:5 Ausschließliche Zuständigkeit besitzt die EU in Fragen der Zollunion, der Euro-Währungspolitik und der gemeinsamen Handelspolitik. In Bereichen wie Umwelt, Verbraucherschutz, Recht und Inneres oder Transport teilen sich Mitgliedstaaten und EU-Ebene die Kompetenzen (geteilte Zuständigkeit). Allenfalls unterstützend tätig wird die EU in Bereichen wie Gesundheit, Industrie und Bildung, da hier die Verantwortlichkeit bei den Mitgliedstaaten liegt (keine EU-Zuständigkeit).
  • Subsidiaritätsprinzip: Nach dem Subsidiaritätsprinzip darf die EU nur dann tätig werden, wenn die anvisierten Ziele (besser) auf europäischer Ebene erreicht werden können – im Gegensatz zur nationalen, regionalen oder lokalen Ebene. Wenn nationale Parlamente das Subsidiaritätsprinzip durch einen EU-Gesetzesvorschlag verletzt sehen, können sie im Rahmen eines sogenannten „Frühwarnsystems“6 der Kommission eine „gelbe Karte“ zeigen. Darüber hinaus können Mitgliedstaaten eine Subsidiaritätsklage7 gegen einen bereits beschlossenen Rechtsakt einlegen.
  • Verhältnismäßigkeitsprinzip: Demnach dürfen die von der Union ergriffenen Maßnahmen nicht über das zur Erreichung der Ziele der Verträge erforderliche Maß hinausgehen.8 Das heißt, Inhalt und Form einer Maßnahme müssen im Verhältnis zum verfolgten Ziel stehen. Es muss also geprüft werden, ob es alternative Maßnahmen gibt, die ebenso wirksam sind, aber die Rechte der Mitgliedstaaten weniger berühren.

Auslegung durch den Gerichtshof gebunden an EU-Verträge: Die Auslegung der Verträge obliegt letztendlich der obersten Instanz des Gerichtshofs der Europäischen Union, dem EuGH. Der EuGH ist für das Primär- und Sekundärrecht (d. h. Vertragsrecht und beschlossene Rechtsakte) zuständig und wird in Streitfällen angerufen, wenn bspw. unklar ist, ob die EU oder Mitgliedstaaten in einem bestimmten Politikbereich aktiv werden dürfen. Dabei legt der EuGH die Kompetenzverteilung mal zugunsten der europäischen und mal zugunsten der nationalen Institutionen aus. Keinesfalls kann er aber neue EU-Kompetenzen erfinden, sondern ist stets an die Verträge gebunden. Letztlich haben die EU-Mitgliedstaaten darüber hinaus immer die Möglichkeit, Verantwortlichkeiten per Vertragsänderung zu klären oder umzugewichten (à Factsheet EU-Demokratie 2).

 

†Luckes Aussage impliziert, dass die EU unabhängig von den Mitgliedstaaten agieren und sich politische Entscheidungsrechte aneignen könne. Tatsächlich aber hängt die Verteilung der Zuständigkeiten von den Nationalstaaten ab, da diesen die Kompetenz-Kompetenz obliegt. †

Damit stellt Lucke die EU und die Nationalstaaten einander als Antipole gegenüber, obwohl die Nationalstaaten die zentralen Instanzen der Entscheidungsfindung der EU sind. Luckes Fazit, nichts könne die EU-Staaten daran hindern, „sich Kompetenzen und Rechte aus Brüssel zurückzuholen“, kann daher kaum als Drohung, sondern als bloße Tatsachenfeststellung verstanden werden. †

Lucke greift dabei ein klassisches europaskeptisches und populistisches Motiv vom „Brüsseler Diktat“ auf, gemäß dem die EU als machthungriger und außer Kontrolle geratener Zentralstaat dargestellt wird. Alternativvorschläge der AfD zur Konstruktion der EU sind angesichts der dürftigen Problemanalyse und der geschürten Vorurteile wenig inhaltsreich. Wie genau die Kompetenzen verteilt werden sollten und inwiefern Deutschland dadurch an Gestaltungsmacht gewinnen könnte, verrät Lucke nicht.

Wo finde ich diese Informationen?

 

1 Pressemitteilung AfD, Bernd Lucke: AfD unterstützt EU-Reformvorschläge Camerons, 27.5.2015, https://www.alternativefuer.de/lucke-afd-unterstuetzt-eu-reformvorschlaege-camerons/ (letzter Zugriff: 2.11.2016).

2 Amtsblatt Nr. C 326 vom 26/10/2012 S. 0001 – 0390: Konsolidierte Fassungen des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, http://eur-lex.europa.eu/legal-content/de/TXT/?uri=CELEX%3A12012M%2FTXT  (letzter Zugriff: 21.2.2017).

3 Amtsblatt Nr. C 326 vom 26/10/2012 S. 0001 – 0390: Konsolidierte Fassungen des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, http://eur-lex.europa.eu/legal-content/de/TXT/?uri=CELEX%3A12012M%2FTXT (letzter Zugriff: 21.2.2017).

4 Martin Große Hüttmann: Kompetenz-Kompetenz, in: Martin Große Hüttmann/Hans-Georg Wehling (Hrsg.): Das Europalexikon, 2., aktual. Aufl. Bonn: Dietz 2013, http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/177087/kompetenz-kompetenz (letzter Zugriff: 21.2.2017); Peter-Christian Müller-Graff / Friedemann Kainer: Zuständigkeiten: Kompetenzen und Instrumente, in: Werner Weidenfeld / Wolfgang Wessels (Hrsg.): Europa von A bis Z. Taschenbuch der europäischen Integration, 14. Auflage, Nomos-Verlag, S. 451-463, hier S. 454.

5 Peter-Christian Müller-Graff / Friedemann Kainer: Zuständigkeiten: Kompetenzen und Instrumente, in: Werner Weidenfeld / Wolfgang Wessels (Hrsg.): Europa von A bis Z. Taschenbuch der europäischen Integration, 14. Auflage, Nomos-Verlag, S. 451-463, hier S. 454-455.

6 Europäische Kommission: Relations with national parliaments, https://ec.europa.eu/info/law/law-making-process/overview-law-making-process/adopting-eu-law/relations-national-parliaments_en (letzter Zugriff: 21.2.2017).

7 Peter-Christian Müller-Graff / Friedemann Kainer: Zuständigkeiten: Kompetenzen und Instrumente, in: Werner Weidenfeld / Wolfgang Wessels (Hrsg.): Europa von A bis Z. Taschenbuch der europäischen Integration, 14. Auflage, Nomos-Verlag, S. 451-463, hier S. 456; Rosa Raffaelli: Europäisches Parlament Service: Kurzdarstellungen zur Europäischen Union. Subsidiaritätsprinzip, 12.2016,  http://www.europarl.europa.eu/atyourservice/de/displayFtu.html?ftuId=FTU_1.2.2.html (letzter Zugriff: 21.2.2017).

8 Peter-Christian Müller-Graff / Friedemann Kainer: Zuständigkeiten: Kompetenzen und Instrumente, in: Werner Weidenfeld / Wolfgang Wessels (Hrsg.): Europa von A bis Z. Taschenbuch der europäischen Integration, 14. Auflage, Nomos-Verlag, S. 451-463, hier S. 455-456