Assoziierte Unionsbürgerschaft: Frühzeitiges Ende einer Idee mit großem Potenzial?

Oliver Schwarz, Universität Duisburg-Essen

Aus guten Ideen entstehen längst nicht immer gute Projekte. Davon zeugte nicht zuletzt das Projekt eines kostenlosen Interrail-Tickets für junge Europäer. Ein weiteres Beispiel eines gescheiterten europäischen Vorhabens ist die assoziierte Unionsbürgerschaft. Der Brexit bedeutet für die britischen Bürger, ihre Rechte als Unionsbürger zu verlieren. Ein Überdenken der Unionsbürgerschaft, sowie transnationale Wahllisten bieten einen Gegenentwurf zum totalen Ausschluss der britischen Bevölkerung von europäischen Institutionen und dem politischen Entscheidungsprozess. Angesichts einer harten Verhandlungslinie beider Seiten im Zuge des Brexit zeigt dieser Beitrag die Gestaltungsmöglichkeiten und den Mehrwert einer assoziierten Unionsbürgerschaft auf.

Jeder EU-Bürger sollte zu seinem 18. Geburtstag kostenlos einen einmonatigen Interrail-Pass erhalten, um Europa reisend kennenzulernen und dabei Vorurteile abzubauen. Die Idee, angestoßen von den beiden Berliner Aktivisten Vincent-Immanuel Herr und Martin Speer, fand eine breite Unterstützung im Europäischen Parlament. Am Ende wurde aus der von der Europäischen Kommission aufgegriffenen Idee jedoch ein bis zur Unkenntlichkeit abgewandeltes Mini-Pilotprojekt. Jugendliche können zwar nun für ihre Reise einen Zuschuss von bis zu 530 Euro beantragen, der Kreis der Begünstigten beschränkt sich jedoch auf 7.000 Jugendliche. Das Projekt ist zudem eine einmalige Aktion. Sie ist zudem eng an das bestehende Schulprogramm „Twinning“ gekoppelt ist, das neben dem Nutzen des Schienenverkehrs auch umweltschädliche Flugreisen umfasst.

Eine assoziierte Unionsbürgerschaft für britische Staatsbürger

Eine andere Idee, die aus den Reihen des Europäischen Parlaments kam, wurde erst kürzlich so gut wie begraben: Die Einführung einer assoziierten Unionsbürgerschaft für britische Staatsbürger, für die mit dem Austritt ihres Landes aus der Europäischen Union eine Reihe individueller Rechte auf dem Spiel steht. Jedoch weder die Grenzen des EU-Haushalts, noch die Regelungsleidenschaft der Europäischen Kommission wurden dem Konzept der assoziierten Unionsbürgerschaft zum Verhängnis. Das Europäische Parlament hat selbst für ein frühzeitiges Ende einer Idee mit großem Potenzial gesorgt – zumindest vorerst.

Charles Goerens möchte es allen Staatsbürgern des Vereinigten Königreiches ermöglichen, auch nach dem Brexit Bürger der Europäischen Union zu bleiben

Doch gehen wir zunächst einmal einen Schritt zurück, zu den Anfängen jener Idee. Er habe nicht im Traum daran gedacht, dass sein Vorschlag auf ein solches Echo stoßen würde, so Charles Goerens in einem Interview. Als langjähriger Europaabgeordneter hat der ehemalige Luxemburger Verteidigungsminister bereits unzählige Änderungsanträge in die parlamentarische Debatte eingebracht – allein rund fünfzig in der laufenden Legislaturperiode. Doch keiner dieser Anträge stieß bisher auf eine derartige Resonanz, wie der nur vierzehn Zeilen langer Änderungsantrag Nr. 882 von Goerens zum Bericht von Guy Verhofstadt über mögliche institutionelle Reformen der Europäischen Union.
Charles Goerens spricht sich in diesem Antrag für die Einführung einer „assoziierten europäischen Staatsbürgerschaft“ aus. Diese solle all denjenigen offenstehen, „die sich als Teil des europäischen Projektes fühlen und auch ein Teil davon sein möchten, aber die Staatsangehörigkeit eines ehemaligen Mitgliedstaates besitzen“. Mit anderen Worten: Charles Goerens möchte es allen Staatsbürgern des Vereinigten Königreiches ermöglichen, auch nach dem Brexit Bürger der Europäischen Union zu bleiben.

Der Ursprung der Unionsbürgerschaft

Die Schaffung der Unionsbürgerschaft geht auf den Vertrag von Maastricht zurück, der am 1. November 1993 in Kraft getreten ist. Seither ist jeder Bürger eines EU-Mitgliedsstaates zugleich auch Bürger der Europäischen Union. Die Unionsbürgerrechte sind fest in den europäischen Verträgen verankert und haben in den vergangenen Jahren durch die Rechtsprechung erheblich weiterentwickelt. Den Kern der Unionsbürgerschaft bilden die folgenden Rechte:

  • Das Recht, sich innerhalb der EU frei zu bewegen und aufzuhalten;
  • der Schutz vor Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit;
  • das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunal- und Europawahlen;
  • das Recht auf diplomatischen und konsularischen Schutz durch einen anderen EU-Mitgliedsstaat;
  • das Recht, sich in einer der 24 Amtssprachen der EU an die europäischen Institutionen zu wenden und eine Antwort in derselben Sprache zu erhalten;
  • das Petitionsrecht beim Europäischen Parlament;
  • das Anrufungsrecht beim Europäischen Bürgerbeauftragten.

Transnationale Wahllisten bei Europawahlen

Konkret wollte Charles Goerens allen assoziierten Unionsbürgern „das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt innerhalb des Unionsgebiets, sowie das Recht auf Vertretung im Parlament durch Abstimmung bei den europäischen Wahlen auf den europäischen Listen“ gewähren. Letzteres setzt freilich die Einführung transnationaler Wahllisten bei den Europawahlen voraus – ein Vorschlag, der vom Europäischen Parlament bereits vor Jahren in die Diskussion eingebracht wurde.

Charles Goerenl brachte eine Gebühr für den Erwerb einer assoziierten Unionsbürgerschaft ins Spiel

Die Prozedur für den Erwerb einer assoziierten Unionsbürgerschaft hat Charles Goerens nicht weiter konkretisiert. In verschiedenen Interviews sprach er sich einerseits dafür aus, dass Antragsteller lediglich eine Erklärung unterzeichnen müssten, in der sie sich für die europäische Idee und die europäischen Grundwerte aussprechen. Ein anderes Mal brachte er eine zu Gebühr ins Spiel, die direkt in den EU-Haushalt fließen könnte. Zum Vergleich: Wer die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten möchte, muss für Pass und Einbürgerungsverfahren 255 Euro bezahlen.

Pikanterweise hatte sich das Europäische Parlament erst zu Beginn des Jahres 2014 in einer nicht-bindenden Entscheidung dafür ausgesprochen, die Unionsbürgerschaft nicht mit einem Preisschild zu versehen. Der Besitz der Unionsbürgerschaft hänge davon ab, ob eine Person „Interessen in der Union“ habe, und von den „Verbindungen einer Person zu Europa oder den EU-Mitgliedstaaten oder ihren persönlichen Verbindungen zu Unionsbürgern“, so damals die einhellige Meinung der Europaabgeordneten.

Gegenwind aus verschiedenen Reihen

Innerhalb der EU waren die Reaktionen auf den Vorschlag von Charles Goerens dementsprechend eher verhalten. Der französische Politiker Christophe Premat kritisierte das Vorhaben als Ausdruck eines „Europe à la carte“ und sah darin die Glaubwürdigkeit der EU beschädigt. Auch die Luxemburger Europaabgeordnete und ehemalige Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, Viviane Reding, zu ihrer Amtszeit für Justiz, Grundrechte und Bürgerschaft zuständig, befürchtete eine Schwächung der Unionsbürgerschaft.

Man solle zum aktuellen Zeitpunkt nichts ausschließen, betonte die schottische Premierministerin Nicola Sturgeon

Im Vereinigten Königreich entbrannte derweil eine kontroverse Debatte. Jayne Adye, Direktorin der parteiübergreifenden Kampagne „Get Britain out“, sah in dem Vorschlag einen Versuch der EU, die britische Nation gerade in dem Moment zu spalten, in der sie der Einigkeit bedürfe. Die schottische Premierministerin hat den Vorschlag von Charles Goerens hingegen begrüßt. Man solle zum aktuellen Zeitpunkt nichts ausschließen, betonte Nicola Sturgeon in einer Rede vor Studierenden am Trinity College in Dublin. Überhaupt sorgte die Idee einer assoziierten Unionsbürgerschaft gerade bei jungen Menschen für Begeisterung. Sie hatten sich am 23. Juni vorwiegend für einen Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU ausgesprochen. Die Gruppe „European Movement UK“ und weitere pro-europäische Bewegungen initiierten daraufhin die Onlinekampagne „Save our EU Citizenship“, in der sie die britische Regierung zu einer Unterstützung des Vorschlags aufforderten.

Von derartigen Kampagnen zeigte sich Downing Street No. 10 jedoch relativ unbeeindruckt. Die Befürworter eines Brexits hatten im Zuge der Referendumskampagne gerade damit gepunktet, dass nach einem EU-Austritt künftig weniger Ausländer in das Land kommen würden. Premierministerin Theresa May hatte daher in ihrer Rede zum Brexit ausdrücklich betont, dass auch sie die Kontrolle über die Zahl der EU-Bürger, die in das Land kommen, zurückgewinnen wolle. Doch wie würde die britische Regierung mit den etwa 3,3 Millionen EU-Bürgern verfahren, die derzeit im Vereinigten Königreich leben? In der politischen Praxis zeichnete sich auch hier schnell eine Hardliner-Position ab. In den Medien häuften sich Berichte von im Vereinigten Königreich ansässigen EU-Bürgern, die von den Behörden aufgefordert wurden, das Land zu verlassen.

Die EU fährt eine harte Verhandlungsstrategie

Innerhalb der EU stellte man sich schnell auf eine harte Verhandlungslinie ein. In der endgültigen Fassung des Berichts von Guy Verhofstadt findet man daher kein Wort mehr zu einer assoziierten Unionsbürgerschaft. Im Gegenteil: Vielmehr wird darin „die Integrität des Binnenmarkts und dessen Untrennbarkeit von den vier Grundfreiheiten der Union“ betont. Diese „verfassungsmäßige Einheit“ dürfe im Laufe der Verhandlungen über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU nicht aufgegeben werden.

Nun hatte Guy Verhofstadt angedeutet, dass er den Vorschlag von Goerens zumindest in die Verhandlungsstrategie des Europäischen Parlaments mit einfließen lassen wolle. Doch auch davon ist in dem entsprechenden Beschluss nur wenig zu finden. Dort heißt es lediglich, dass das Europäische Parlament zur Kenntnis nehme, „dass viele Bürger des Vereinigten Königreichs bereits starken Widerstand gegen den Verlust der Rechte geäußert haben“ und die EU daher prüfen solle, „wie dies innerhalb der Schranken des Primärrechts der Union unter vollständiger Achtung der Grundsätze der Gegenseitigkeit, der Gerechtigkeit, der Symmetrie und der Nichtdiskriminierung abgemildert werden kann“. Mit anderen Worten: Keine Freizügigkeit für EU-Bürger im Vereinigten Königreich, kein Zugang zum Binnenmarkt und keine rechtliche Sonderbehandlung für britische Bürger.

Der Mehrwert einer assoziierten Unionsbürgerschaft

Nun ist davon auszugehen, dass beide Verhandlungsparteien in den nächsten Jahren eine Lösung finden werden, die sowohl diesseits, als auch jenseits des Ärmelkanals den drängenden Sorgen der EU-Bürger gerecht wird. Denn nur zur Erinnerung: Rund 1,2 Millionen Briten leben und arbeiten innerhalb der EU. Auch sie haben ein Interesse daran, ihre Rechte als Unionsbürger nicht zu verlieren. Welchen Mehrwert kann also das Konzept einer assoziierten Unionsbürgerschaft bieten? Zunächst einmal ist festzuhalten, dass sich die hitzige politische Diskussion momentan allein auf den Aspekt der Freizügigkeit beschränkt.

Welchen Mehrwert kann also das Konzept einer assoziierten Unionsbürgerschaft bieten?

Ein Blick auf die gelebte Praxis der EU zeigt, dass der Zugang zum Schengener Raum ein besonderes Privileg darstellt. Lediglich die Bürger aus vier EU-Drittstaaten besitzen die Möglichkeit, ohne Visa in die EU zu gelangen und dort frei zu reisen: Diese vier Staaten -Island, Lichtenstein, Norwegen und die Schweiz – sind Mitglied der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA). Bulgarien, Kroatien, Rumänien und Zypern gehören noch nicht dem Schengener Raum an. Irland und das Vereinigte Königreich hatten einst ein „Opt-out“ für sich in Anspruch genommen. Darüber hinaus haben die Länder des Schengener Raums zwar rund weitere 60 Länder von der Visumspflicht befreit, deren Bürger können sich in der Regel jedoch nur bis zu 90 Tage mit ihrem nationalen Ausweisdokument innerhalb der EU frei bewegen.

Eine Kollektivbestrafung der britischen Staatsbürger?

Wie bereits oben dargestellt, ist die Unionsbürgerschaft jedoch mehr als nur die Möglichkeit, sich innerhalb der EU frei zu bewegen. Die Bürger des Vereinigten Königreiches besäßen mit dem Austritt ihres Landes keinen Zugang mehr zu den europäischen Institutionen. Sie würden ihr Recht auf Teilhabe an der Europawahl verlieren und einen beachtlichen, europarechtlich abgesicherten Schutz vor Diskriminierung einbüßen. Ist dies noch zeitgemäß? Hat die Unionsbürgerschaft nicht den individuellen Status der EU-Bürger aufgewertet und ihn vom Nationalstaat losgelöst? Der portugiesische Generalanwalt des EUGH, Miguel Poiares Maduro, hatte in einer Rechtssache zur Unionsbürgerschaft diesen Aspekt explizit betont: „Der Zugang zur Europabürgerschaft wird durch die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats übermittelt, die durch das nationale Recht geregelt wird, die aber auch, wie jede Form der Bürgerschaft, die Grundlage für einen neuen politischen Raum bildet, aus dem Rechte und Pflichten erwachsen, die durch das Gemeinschaftsrecht festgelegt werden und nicht vom Staat abhängen.“ Ist es vor diesem Hintergrund zu rechtfertigen, dass Unionsbürger dafür bestraft werden, dass eine Mehrheit ihrer Landsleute für den Austritt ihres Landes aus der EU gestimmt hat?

Es ist an der Zeit, der schrittweisen Loslösung europäischer Bürgerschaftsrechte von der nationalen Ebene Rechnung zu tragen und so etwas wie eine supranationale, genuin europäische Verfassungspolitik zu denken

Man muss nicht mit Ulrike Guérot übereinstimmen und eine europäische Republik mit einem neuem institutionellen Aufbau fordern, aber es ist an der Zeit, der schrittweisen Loslösung europäischer Bürgerschaftsrechte von der nationalen Ebene Rechnung zu tragen und so etwas wie eine supranationale, genuin europäische Verfassungspolitik zu denken.

Unterstützung eines Beitritts in Osteuropa

Dies gilt in erster Linie und unmittelbar für die Belange der britischen Bevölkerung. Die EU sollte ihr Augenmerk jedoch unbedingt auch auf diejenigen Bürger richten, die sich von einer zukünftigen Mitgliedschaft ihres Landes in der EU eine bessere Zukunft versprechen. Und damit sind wir dann auch bei den Beitrittskandidaten der EU. Laut aktuellem Standard Eurobarometer befürworten 88 Prozent aller Albaner eine Mitgliedschaft ihres Landes in der EU. Es folgt Mazedonien mit 69 Prozent, Montenegro mit 59 Prozent. In der Türkei sind dies immerhin noch 44 Prozent der Bevölkerung, in Serbien 43 Prozent. Nach einer Umfrage des Balkan Opinion Barometer beläuft sich die Unterstützung des EU-Beitritts in Kosovo auf 83 Prozent, in Bosnien-Herzegowina hingegen nur auf 33 Prozent.

Doch warum nicht auch Bürgern der Drittstaaten, die eng mit der EU verbunden sind, die politischen Vorteile der Unionsbürgerschaft ermöglichen?

Bereits 2009 gewährte die EU Mazedonien, Montenegro und Serbien die Visafreizügigkeit. Ein Jahr später folgten Albanien und Bosnien-Herzegowina. Im Februar 2017 hat die EU die Visapflicht für Georgien aufgehoben. Im Mai 2017 gab es schließlich grünes Licht für eine Visaliberalisierung mit der Ukraine. Ein Jahr zuvor hatte die Kommission vorgeschlagen, Kosovo in die Liste visabefreiter Drittstaaten aufzunehmen. Doch weder Parlament noch Rat sehen derzeit die entsprechenden Bedingungen vollends erfüllt. Auch der Türkei wurde im Zuge des so genannten „Flüchtlingsabkommens“ eine Visumfreiheit bis Ende Juni 2017 in Aussicht gestellt. Im Zuge der politischen Säuberungen nach dem Putschversuch im Juli 2016 und dem Umbau des politischen Systems nach dem Verfassungsreferendum im April 2017 ist dieses Ziel jedoch vorerst in weite Ferne gerückt.

Das Instrument der Visaliberalisierung wird demnach aktiv genutzt und sowohl in der Erweiterungs- als auch Nachbarschaftspolitik der EU angewandt. Politische Think Tanks wie die European Stability Initiative fordern diese Politik der Öffnung des Schengener Raums bereits seit Jahren. Doch warum nicht auch Bürgern der Drittstaaten, die eng mit der EU verbunden sind, die politischen Vorteile der Unionsbürgerschaft ermöglichen? Warum soll man sie beispielsweise nicht an Europawahlen teilnehmen lassen? Gefordert habe ich dies bereits 2010 im Rahmen meiner Dissertation zur Europäisierung des westlichen Balkans. Die aktuelle Diskussion über die Einführung transnationaler Wahllisten im Zuge des Ausscheidens der britischen Abgeordneten aus dem Europäischen Parlament eröffnet hierfür ein neues Gelegenheitsfenster.

Ein europäisches Gemeinschaftsgefühl

Eine Teilnahme an den Europawahlen könnte bei den assoziierten Unionsbürgern nachhaltig ein Gemeinschaftsgefühl hervorrufen. Eine verstärkte Partizipation an den kollektiven, EU-spezifischen Entscheidungsprozessen könnte zu einer stärkeren Auseinandersetzung mit den informellen Normen und Werten der EU führen, Lernprozesse freisetzen und allgemeine Identitätsprozesse bereits vor dem Erwerb der EU-Mitgliedschaft initiieren. Die Erweiterung der politischen Partizipationsmöglichkeiten könnte außerdem zu einer Intensivierung der wechselseitigen Kommunikation und damit zu einer schrittweisen Etablierung einer europäischen Öffentlichkeit führen. Schließlich würden sich auch die Bürger Südosteuropas als Mitglieder einer supranational-politischen Gemeinschaft begreifen und sich folglich mit dieser stärker identifizieren.

Es ist daher bedauerlich, dass das Europäische Parlament dem Vorstoß von Charles Goerens nicht weiter nachgegangen ist. Doch sind Ideen erst einmal in der Welt, werden sie auch ihre Anhänger finden. Das heutige Konzept der Staatsbürgerschaft wurzelt in der Französischen Revolution, die allen Mitgliedern der Gesellschaft Freiheit und Rechtsgleichheit sichern sollte. Der moderne citoyen begann zu dieser Zeit, seine individuellen Rechte beim Staat einzufordern. Mit Sicherheit werden die vom Brexit betroffenen Unionsbürger alles daran setzen, um ihre über Jahrzehnte hinweg gewonnenen rechtlichen Privilegien nicht zu verlieren. Es scheint mir jedoch verfehlt, aus diesen Entwicklungen einen möglichen Bürgerkrieg zu prognostizieren. Die europäische Politik sollte das Moment des Brexit nicht ungenutzt verstreichen lassen und als Chance begreifen, dem Euroskeptizismus – der sich nicht nur innerhalb der EU ausbreitet – zu begegnen.


Dr. Oliver Schwarz ist Politikwissenschaftler und arbeitet seit 2004 an der Universität Duisburg-Essen. Sein Forschungsschwerpunkt am dortigen Jean Monnet-Lehrstuhl für Europäische Integration und Europapolitik ist die Erweiterung der Europäischen Union.