Zoff in der EU: Gefahr oder Chance?
Prof. Timm Beichelt, Europa-Universität Viadrina
Eine kritische Auseinandersetzung mit der Europäischen Union ist dringend notwendig. Denn nur über öffentlich ausgetragenen Streit können der europäische Integrationsprozess vertieft und eine gemeinsame Identität gebildet werden.
Ist es angemessen und legitim, die Politik der europäischen Integration öffentlich zu kritisieren? Hat als Anti-Europäer zu gelten, wer bestimmten politischen Entscheidungen oder Akteuren aus „Brüssel“ mit Skepsis gegenübersteht? Oder: Läuft man Gefahr, das Spiel der europäischen Populisten von Front National bis AfD zu befeuern, wenn man deren Kritik an „Europa“ nicht kategorisch zurückweist, sondern ihren Argumenten teilweise folgt?
Ich will hier argumentieren, dass auch angesichts dieser Gefahren eine kritische Auseinandersetzung mit der EU und/oder der europäischen Integration nicht nur nötig, sondern sogar geboten ist. Diese Position vertrete ich nicht, weil ich mit den Argumenten der vielfältigen EU-Skeptiker übereinstimmen würde, sondern aus einem anderen Grund. In jedem Jahr seit 1992 sind laut den Umfragen des Eurobarometers immer mindestens 10% der deutschen Bevölkerung explizit der Meinung gewesen, die EU-Mitgliedschaft sei eine „schlechte Sache“. Ein weit größerer Bevölkerungsanteil von etwa 35%-45% – je nach Erhebungsjahr – sieht keinen konkreten Nutzen durch die EU-Mitgliedschaft. In anderen EU-Staaten als Deutschland sind die entsprechenden Zahlen noch höher. Keinem politischen Gemeinwesen tut es gut, wenn die Einstellungen größerer Gruppen systematisch nicht diskutiert oder repräsentiert werden.
EU-Skepsis als differenzierungsbedürftiges Phänomen
Zunächst müssen wir klären, worum es geht, wenn wir von EU-Skepsis sprechen. Ich plädiere für eine Unterscheidung zwischen Kritik, die sich auf die EU als Institution oder aber auf den Gedanken der europäischen Integration richtet. Cas Mudde und Petr Kopecký haben diesbezüglich einmal von der Unterscheidung zwischen spezifischer und diffuser Europakritik gesprochen.
Der fortgeschrittene Status der EU-Integration bringt es allerdings zunehmend mit sich, dass diffuse und spezifische Aspekte der Ablehnung von EU-Politik nur noch schwer auseinanderzuhalten sind. In früheren Phasen der europäischen Integration, als regelmäßig Wegmarkenentscheidungen zusätzlicher Integration anstanden, konnte die Ablehnung von Integration klar zugeordnet werden. Es ging um Positionierungen zu weiteren Vertiefungen im Sinne des Transfers staatlicher Souveränität, z.B. bei der Einrichtung der Wirtschafts- und Währungsunion oder der Europäisierung der Asylpolitik. Heute aber, wo die politischen und gesellschaftlichen Folgen dieser Integrationsentscheidungen zu bewältigen sind, kann sich diffuse EU-Kritik auch auf existierende – und nicht nur in Aussicht stehende – Grundpfeiler der EU-Integration richten. Die EU-Verträge sehen aber eine Politik der Desintegration nicht vor, wenn man von der ultimativen Möglichkeit des Austritts aus der EU in Art. 50 EUV absieht. Diffuse EU-Kritik, die manchmal auch harte EU-Kritik genannt wird, ist also als strukturelle Komponente der europäischen Politik zu begreifen.
Welche Stränge diffuser EU-Kritik existieren indes? Zu unterscheiden sind mindestens drei Bereiche. Erstens gehört dazu die Ablehnung der EU in ihrer Eigenschaft als potenzielle Bedroherin nationaler Traditionen und Identitäten. Zweitens richtet sich Kritik auf die demokratische Verfasstheit. Und drittens findet sich Kritik am sozio-ökonomischen Kurs der EU, der – z.B. in Südeuropa – ganze Landstriche in eine massive Krise geführt habe. Gehen wir die drei Bereiche im Einzelnen durch.
Die EU als Herausforderung für nationale Identitäten und Traditionen
In weiten Teilen der Bevölkerungen Europas werden Nationen als Bezugsgemeinschaften mit gemeinsamen sprachlichen, historischen und kulturräumlichen Erfahrungshintergründen gesehen. Der wichtigste Bezugspunkt der an Traditionen orientierten EU-Skepsis besteht dabei üblicherweise darin, dass nur nationale Identitäten eine hinreichend hohe Kohäsionskraft besäßen, um auch bei schwierigen politischen Entscheidungen ein Mindestmaß an Legitimität zu sichern. Die europäische Identität sei dagegen zwar möglicherweise in Grundzügen vorhanden. Durch das Fehlen einer gemeinsamen Sprache, durch die Nichtexistenz gemeinsamer Kommunikationsräume sowie durch die häufig antagonistischen Geschichtserfahrungen sei diese jedoch kaum belastbar, etwa wenn es um die Verteilung von Ressourcen innerhalb der EU geht.
Dabei galt lange als common sense, dass die Offenheit für Europa und die Akzeptanz der EU in gesellschaftlichen Gruppen recht unterschiedlich verteilt sind. So wurde und wird argumentiert, dass Jüngere und Gebildete über überdurchschnittliche Kompetenzen beim Umgang mit dem europäischen Ausland verfügen. Daher sei perspektivisch mit einer immer höheren EU-Identität zu rechnen, da die jüngere Generation die ältere früher oder später von den Schalthebeln in Politik und Medien ablösen werde. Diese Erkenntnis ist durch die großen Wahlerfolge erschüttert, die konservative und EU-skeptische Kräfte in jüngeren Jahren etwa in Ungarn und Polen einfahren konnten. Angesichts der schichtenübergreifenden Unterstützung an den Urnen, aber auch angesichts der durchaus weltgewandten Eliten jener Parteien lässt sich identitäre EU-Skepsis nicht mehr einfach als Phänomen abtun, das im Laufe der Jahre aus demographischen Gründen von selbst verschwinden wird. Auch bei der deutschen AfD lässt sich weder bei Führungskräften noch bei der Anhängerschaft pauschal von einer Partei der Pensionäre und/oder sozial benachteiligter Gruppen sprechen.
Die EU als Ort defekter demokratischer Prinzipien
Auch nach 30 Jahren Diskussion und durch beträchtlichen Reformen hat sich das Motiv nicht verloren, die EU sei mit einem Demokratiedefizit behaftet. Mehrere Aspekte werden immer wieder hervorgehoben. Zum Beispiel habe die europäische Integration den Spielraum nationaler Parlamente dramatisch eingeschränkt. Das Prinzip der Volkssouveränität sei damit insoweit unter Druck geraten, als nationale Wahlen kaum noch als große Richtungsentscheidungen begriffen werden können; der vielleicht wichtigste Mechanismus demokratischer Legitimation sei damit beschädigt.
Auch ein anderes Kernelement der liberalen Demokratie, die Kontrolle der Regierenden durch die Regierten, wird im Rahmen Konfiguration der EU häufig skeptisch gesehen. Die Legitimationsketten in der europäischen Politik sind lang und kompliziert. Die Transparenz europäischer Entscheidungen ist aufgrund des hochkomplexen Gesamtsystems ebenfalls eingeschränkt. Am Ende umstrittener Entscheidungen ist es daher nicht nur schwer, Verantwortlichkeiten zu identifizieren. Auch ist der Ausgangsort der allermeisten EU-Entscheidungen, nämlich die EU-Kommission, für die Wähler kaum belangbar. Die demokratische Praxis der europäischen Politik liefert damit in der Tat Anhaltspunkte für skeptische Einschätzungen.
Die EU als Bedrohung sozialstaatlicher Handlungsfähigkeit
Als Charles de Gaulle in den 1960er-Jahren die „Politik des leeren Stuhls“ betrieb, ging es um den Erhalt der Fähigkeit, den französischen Agrarsektor den Auswirkungen der Markterweiterung zu schützen. Heute taucht dieses Argument im Arsenal von EU-Skeptikern in einer verallgemeinerten Form auf. Kritikern wie Fritz Scharpf oder Wolfgang Streeck geht es darum, dass die politische Sphäre insgesamt nur noch sehr eingeschränkt in der Lage ist, Individuen und Gruppen vor schädlichen Auswirkungen des Marktes zu schützen. Die EU-Skepsis erwächst in diesem Kontext aus dem Versäumnis der europäischen Politik, ökonomische Akteure mit (zwangsläufig) fehlendem Gemeinwohlinteresse adäquat einzuhegen.
Eingeschlossen werden in diese Kritik Maße der Europäische Gerichtshof (EuGH) und die Europäische Zentralbank (EZB). Beide Institutionen treffen Entscheidungen mit massiven Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit der europäischen Wohlfahrtsstaaten, definieren aber soziale Folgen ihrer Entscheidungen etwas, das außerhalb ihrer Zuständigkeitszonen liegt.
EU-Skepsis und EU-Kritik in neuem Licht
Lange bestand eine verbreitete Reaktion auf EU-Skepsis darin, die Hoffnung auf das Beheben der Defizite auf die nächste Runde von Vertragsveränderungen zu richten. Dies erscheint heute kaum noch möglich. Einerseits haben die Krisen um die EU-Verfassung, die Wirtschafts- und Währungsunion sowie die Flüchtlingskrise der EU so sehr zugesetzt, dass größere Neuerungen im EU-Vertrag derzeit wenig wahrscheinlich sind. Andererseits hat, so ist deutlich geworden, hat das Phänomen der EU-Skepsis erheblich an Breite und Intensität gewonnen. Es bezieht sich bereits jetzt auf den erreichten Vertiefungsgrad europäischer Politik. Weitere Integrationsschritte dürften die EU-Skepsis eher verstärken als zum Verschwinden bringen.
Und es sind nicht mehr nur Nationalisten oder Isolationisten aus Polen und Großbritannien, die die EU kritisieren. Vielmehr lässt sich EU-Kritik in vielen mehrheitsfähigen Lagern vernehmen, nämlich bei gemäßigten Konservativen (Identitätsargument), bei Liberalen (Demokratieargument) sowie bei Gewerkschaften und sozialdemokratischen Parteien (Sozialstaatsargument). Auch lassen sich in der Wissenschaft mehrere relevante Strömungen mit EU-skeptischer Tendenz nennen: ordnungspolitisch denkende Wirtschaftswissenschaftler, an nationalen Verfassungen orientierte Staatsrechtler, dem Wohlfahrtsstaat zugetane Politikwissenschaftler. Das Phänomen der EU-Skepsis ist von den Rändern der europäischen Gesellschaften in deren Mitte gewandert.
Parallel dazu ist die europäische Politik dabei von einem Aggregatzustand in einen anderen übergegangen. Ging es früher um Wegmarkenentscheidungen, lassen sich den EU-skeptischen Positionen heute bestimmte innereuropäische Gruppen oder Milieus zuordnen. Die Deutung der europäischen Politik als sanfte Form von Fremdherrschaft findet sich überwiegend bei solchen Bevölkerungsgruppen, die ganz generell durch gesellschaftlichen Wandel leichter unter Stress geraten. Zwar wirkt die Rückerinnerung an den leistungsfähigen Wohlfahrtsstaat der 1970er-Jahre etwas überholt, da an einer vergangenen Realität orientiert. Die säkulare Aufgabe von Politik, Chancengleichheit zu ermöglichen und Schutz vor struktureller Benachteiligung zu bieten, ist dadurch jedoch nicht obsolet geworden.
EU-Skepsis hat sich damit insofern gewandelt, als sie mittlerweile überwiegend auf konkrete Inhalte oder Prozeduren gerichtet ist. Dabei geht es eher selten um ein generelles Missverhältnis zwischen Bürgererwartungen und dem Potenzial der europäischen Politik, diese Erwartungen zu erfüllen. Vielmehr können sich z.B. die Verfechter nationaler Traditionen nur auf Teile der Bevölkerung(en) berufen. Ihnen gegenüber stehen andere Bevölkerungsteile, die die europäische Ordnung in der gegenwärtigen Form akzeptieren oder sogar eine Verschärfung des innereuropäischen Wettbewerbs wünschen.
Letztlich gründet die EU-Skepsis somit in der Existenz innereuropäischer Bruchlinien. Die EU, ihre Akteure und ihre Institutionen geraten ins Fadenkreuz widerstreitender Interessen, wenn sie gewünschte Politikergebnisse nicht gewährleisten können. Europa hat sich von einem Gegenstand zur Plattform politischer Auseinandersetzungen entwickelt.
Vor diesem Hintergrund erscheint es wenig sinnvoll, die Präsenz EU-skeptischer Positionen und Akteure generell als anti-europäisch zu geißeln. EU-Skepsis stellt keine Gefahr, sondern viel eher eine Chance für den europäischen Integrationsprozess dar. Erst öffentlicher Streit schafft die Fundamente zur Ausbildung einer auch politisch tragfähigen europäischen Identität. Ihrerseits ermöglicht eine wenigstens teilweise europäisch codierte Identität, dass sich demokratische Institutionen in einem quasi-staatlichen Verbund entwickeln können. Wichtige Fundamente einer legitimierbaren europäischen Politik hängen also gerade davon ab, als Ergebnis innereuropäischen Streits überhaupt erst zu entstehen. Zoff in der EU ist eine Chance, keine Bedrohung. Aus systemischer Perspektive sollte man sich über EU-skeptische Kräfte in allen Mitgliedstaaten freuen, da sie politische Konflikte um die europäische Politik rationalisieren und daher handhabbar machen.
Die Akteure in den europäischen Institutionen haben sich vielleicht zu lange der Illusion hingegeben, gewissermaßen jenseits aller Auseinandersetzungen als eine Art Schiedsrichter über alle Formen politischen Streits auf EU-Ebene auftreten zu können. Zwischenstaatliche Kompromissbildung und technokratische Steuerungsleistungen waren dabei die wichtigsten Instrumente. Zur Ausbildung einer europäischen Res Publica, die sich über die Ziele ihres politischen Handelns immer neu verständigen muss, wird das allerdings nicht reichen. Vielmehr bedarf es einer Arena, in der gesellschaftliche Konflikte politisch sichtbar ausgetragen und damit entscheidbar werden.
Wie in nationalen Demokratien können die Repräsentanten europäischer Institutionen nicht darauf hoffen, von den Verlierern solcher Konflikte gelobt zu werden. Indem sie aber vermeintlich EU-skeptische Positionen aufnehmen, leisten sie ihren eigenen Beitrag zu Integration und Europäisierung. EU-Skepsis sollte nicht kritisch beäugt, sondern als regulärer Bestandteil der europäischen Politik verstanden werden.
Timm Beichelt ist Professor für Politikwissenschaft an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Dort leitet er den MA-Studiengang „Europa-Studien“. Der Artikel beruht zu Teilen auf einem Beitrag Beichelts für das Debattenmagazin Berliner Republik.