Die Europäische Union ist unverzichtbar – warum sie nicht scheitern darf!
Prof. Gisela Müller-Brandeck-Bocquet, Universität Würzburg
Warum die europäische Idee in Zeiten von grassierendem Euroskeptizismus nicht ihren Feinden und vor allem nicht einer steigenden Anzahl von scheinbar Unbeteiligten überlassen werden darf, beschreibt Prof. Dr. Gisela Müller-Brandeck-Bouquet in einem persönlichen und leidenschaftlichen Appell für die Rettung der Europäischen Union.
Derzeit drängt sich immer häufiger, immer mächtiger der Eindruck auf, dass das Integrationsprojekt Europäische Union scheitern könnte. Angesichts des vielschichtigen Krisenkontextes scheint die EU am Ende zu sein. Es besteht die sehr reale Gefahr, dass das Einigungswerk soweit werte- und sinnentleert wird, dass von der Idee einer „immer engeren Union der Völker Europas“ (Artikel 1 EU-Vertrag) nicht mehr viel übrigbleibt.
Wie konnte es soweit kommen?
Um eine klare Antwort auf dieses pessimistisches Szenario gleich vorwegzunehmen: Ja, es könnte dazu kommen, dass die EU unter dem Druck äußerer und vor allem innerer Krisen auseinanderbricht. Aber ebenso eindeutig ist festzuhalten: Das darf auf gar keinen Fall geschehen, denn allzu viel steht auf dem Spiel: Europas innerer und äußerer Frieden, sein gemeinsamer Wohlstand, seine Zukunfts- und Überlebensfähigkeit.
Der aktuelle Krisenkontext ist erdrückend: Er reicht von der Staatsschulden- bzw. sogenannten Euro- und Griechenlandkrise, steigenden Wohlfahrts- und Wachstumsgefällen, dem drohenden „Brexit“ und realen Terrorgefahren über die Europa spaltende Flüchtlingskrise. Diese Gemengelage resultiert immer stärker in steil abfallenden Akzeptanzwerten der EU unter den Unionsbürgerinnen und –bürgern bei gleichzeitig rasantem Auftrieb für rechtspopulistische, ultra-nationalistische Kräfte in fast ganz Europa. Wir Europäer müssen uns angesichts dieser äußerst bedrohlichen Lage daher schleunigst auf das Projekt der europäischen Einigung (rück)besinnen, seine immensen Leistungen und Erträge endlich wieder angemessen ein- und wertschätzen und vor allem dürfen wir EU-Europa nicht widerstandslos seinen Feinden überlassen.
Wer auch nur über rudimentärste Geschichtskenntnisse verfügt, weiß: Das vereinte Europa ist Friedensgarantie für unseren kleinen, oft kriegsverheerten Kontinent. Ein Scheitern Europas wäre aktiver Verrat an den Millionen Menschen, die ihr Leben für Freiheit, Selbstbestimmung und Frieden in Europa gegeben haben.
Wer sich auch nur ein klein wenig mit seinem Heimatkontinent Europa identifiziert, muss anerkennen, dass die sukzessiven Erweiterungen der EG und schließlich die weitgehende Verwirklichung des Zusammenschlusses aller europäischen Nationen 2004 bzw. 2007 ein Glücksfall der Geschichte war und nur auf der Grundlage des zuvor im Westen Erreichten denkbar und realisierbar war.
Wer auch nur über minimalste Wirtschaftskenntnisse verfügt, weiß, dass Wohlstand in den Zeiten der Globalisierung auf einem hohen Bildungsstand der Menschen und großen Märkten, auch dem europäischen Binnenmarkt, beruht.
Und wer sich auch nur ein bisschen in der heutigen Welt und den internationalen Beziehungen auskennt, der weiß, dass die europäischen Staaten angesichts des Aufstiegs neuer Mächte wie insbesondere China und Indien, angesichts des Phänomens der emerging powers also, nur geeint eine Zukunft haben und die internationale Politik noch mitgestalten können.
Dies alles gilt es zu bedenken, wenn wir den Wert EU-Europas angemessen erfassen wollen – und dies alles könnte verloren gehen, wenn wir den Feinden Europas sprach- und widerstandlos das Feld überlassen und sie in ihrer Zerstörungswut gewähren lassen.
EU-Europa darf also nicht scheitern.
Dies sollte uns als kategorischer Imperativ gelten, tut dies aber offensichtlich nicht, Wie könnte es sonst zu den momentanen und vielschichtigen Bestrebungen kommen, welche das europäische Gemeinschaftsprojekt in seinem Kern angreifen? Hier muss ich knapp klarstellen, dass nicht die – durchaus kritikwürdigen – Brüsseler Institutionen EU-Europa in Lebensgefahr bringen, und auch die Regierungen der 28 EU-Mitgliedstaaten sind dafür nicht an allererster Stelle verantwortlich zu machen. Vielmehr ist es letztendlich die massenhafte Abwendung der EU-Bürgerinnen und -Bürger vom europäischen Einigungsprojekt und seiner Inkarnation, der EU, die das Integrationsprojekt akut bedrohen.
Daher ist zu fragen, warum Teile der Nationen und Völker Europas ihre Lektionen anscheinend so weitreichend, so leichtsinnig und so unbedacht vergessen wollen. Wie kann es sein, dass viele Europäer dem Einigungsprozess in nicht unerheblichem Maße den Boden unter den Füßen wegziehen, indem sie ihm in großer Zahl die Akzeptanz verweigern, jenen „permissiven Konsensus“ (Lindberg/Scheingold 1970) erodieren lassen, der schon immer der Nährboden, die Muttererde der EWG/EG/EU war? Allein zwischen 2004 und 2014 ist das Vertrauen der Bürger in die EU von 50 % auf 31% gesunken (Eurobarometer 83/Frühjahr 2015, S. 108). Wie kann es sein, dass sich so viele Bürger von Europa abwenden?
Wie kann all das sein, frage ich und weiß keine Antwort.
Deshalb möchte ich schonungslos und ohne Rücksicht auf „politische Korrektheit“ denjenigen unter Euch EU-Mitbürgerinnen und -Mitbürgern einige direkte Fragen stellen; Euch, die Ihr brandgefährlichen Rattenfängern auf den Leim geht, Euch, die Ihr bei der Wahl zum Europäischen Parlament 2014 und in Euren Heimatstaaten den Populisten von links und vor allem von rechts zum Aufstieg verhelft. Versteht Ihr Euch nicht alle als mündige, selbstbewusste und europäische Demokraten?! Warum gebt Ihr dann Eure wertvollen Wählerstimmen so unbedacht und unreflektiert ab? Hiermit spreche ich Euch alle an, Ihr AfD- und Front National-Wähler, Ihr Cinque-Stelle-, Ihr Wahre-Finnen- und FPÖ-Wähler, Ihr Vlaams-Belang und Partii-vor-die-Vrijheid-Wähler, Ihr „Unsere Slowakei“- und UKIP-Wähler und etc.:
Warum fürchtet Ihr so abgrundtief alles Neue und Weltoffene? Warum fühlt Ihr Euch so oft als Verlierer und warum lastet Ihr all Euren Ballast der EU an? Warum verschmäht Ihr sie, die Euch und uns allen Zukunft erst ermöglicht? Warum seid Ihr so erpicht auf den Mief und die autistische Selbstbezogenheit der nationalistischen Volkstümelei? Welche Argumente könnt Ihr anführen, um zu beweisen, dass Eure zumeist sehr kleinen Nationen alleine besser dastünden?
Glaubt Ihr denn tatsächlich, dass das verstaubte, ewig-gestrige Gebrabbele Eurer Parteibosse von Souveränität und autonomer Nationalstaatlichkeit im 21. Jahrhundert noch zukunftsweisend und realistisch ist? Warum folgt Ihr ihrem Mantra, dass die EU Euch behindert und nicht vielmehr ertüchtigt und fit macht für die Zukunft? Lasst Ihr Euch von dem zwanghaften Streben dieser Parteien nach bürgerlicher Wohlanständigkeit und Salonfähigkeit wirklich blenden? Nehmt Ihr – um nur ein besonders krasses Beispiel zu erwähnen – einer Marine Le Pen ihre Strategie, den Front National zu „banalisieren“, tatsächlich ab? Aber habt Obacht: Eine blonde Wölfin, die Kreide frisst, bleibt noch immer eine blonde Wölfin.
Und so möchte ich abschließend rufen: Passt auf, Ihr Bürger Europas, dass Ihr nicht alles vermasselt, alles kaputtmacht, die erreichte europäische Einigung zerschlagt, um danach in Heulen und Wehklagen zu verfallen. Hört auf, Euch als Opfer von Brüssel zu fühlen, hört endlich mit dem Jammern auf, packt vielmehr mit an. Wir können die zahlreichen uns bedrängenden Probleme lösen, die ebenso zahlreichen Chancen nutzen – gemeinsam, nur gemeinsam. Daher, Bürger Europas, besinnt Euch!
Gisela Müller-Brandeck-Bocquet ist Professorin für Europaforschung und Internationale Beziehungen an der Universität Würzburg. Ein noch ausführlicherer „Aufruf“ von ihr zum Thema findet sich hier.