Welche Folgen hätte der Brexit für Europa?
Julia Klein, IEP
Am 23. Juni 2016 stimmen Britinnen und Briten über die zukünftige EU-Mitgliedschaft Großbritanniens ab. Mit dem Referendum sind erhebliche politische und wirtschaftliche Unsicherheiten verbunden – auch für die EU.
Sollte es tatsächlich zum sogenannten „Brexit“ kommen, würde die EU nicht nur einen ihrer größten Mitgliedstaaten (13 Prozent der EU-Bevölkerung) und Netto-Zahler in den EU-Haushalt (12,57 Prozent), sondern mit London auch ein globales Zentrum für Finanzen und Medien sowie einen bedeutenden außenpolitischen Partner verlieren.
Mit Heranrücken des Referendums und der zunehmenden Europafeindlichkeit des Brexit-Lagers ist auch der Ton aus der EU und ihren Mitgliedstaaten bereits deutlich schärfer und strafender geworden: „Leave heißt leave und heißt nicht Sonderregeln“ (EVP-Fraktionsvorsitzender Manfred Weber). Ähnlich entschieden lehnte auch der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble in einem Spiegel-Interview im Juni 2016 britische Sonderrechte beim Binnenmarktzugang ab.
Dass die EU eine harte und konsequente Linie gegenüber Großbritannien verfolgen wird, darüber sind sich die meisten Politiker/innen und Expert/innen aus den EU-Institutionen und den Mitgliedstaaten einig. Für die EU steht bei einem Brexit auch einiges auf dem Spiel: Das beachtliche Beitragsloch im EU-Haushalt müssten vor allem Deutschland, Frankreich und Italien als die – in absoluten Zahlen betrachtet – größten EU-Nettozahler ausgleichen.
Zudem prognostizieren Wirtschaftsexpert/innen wie auch der IWF negative Folgen für die europäische und weltweite Konjunktur. Mit der Schwächung der britischen Wirtschaft würden auch andere Volkswirtschaften der EU, gerade die der „Krisenländer“ wie beispielsweise Irland oder Zypern, aufgrund ihrer wirtschaftlichen Verflechtungen mit Großbritannien erhebliche Verluste erleiden.
Der Brexit wäre eine Zäsur in der europäischen Integrationsgeschichte
Letztlich ist das Ausmaß der sozioökonomischen Folgen eines Brexits für die EU zum jetzigen Zeitpunkt und auch direkt nach der Entscheidung für einen EU-Austritt nicht absehbar. Artikel 50 des Vertrags über die Europäische Union sieht nämlich eine zweijährige Übergangsfrist für Austrittsverhandlungen vor. So lange bleibt Großbritannien zunächst Teil des Binnenmarkts. Erst danach setzen möglicherweise jahrelange Verhandlungen über die Nachbarschaftsbeziehungen mit London ein, da auch alle 27 verbleibenden Mitgliedstaaten sowie das Europäische Parlament die neuen Verträge ratifizieren müssen. Ein neu ausgehandelter Zugang zum EU-Binnenmarkt wird dabei auch an Bedingungen geknüpft sein, die die Brexit-Befürworter jetzt schon ablehnen.
Doch eine EU-27 würde eine weitaus stärkere Verhandlungsposition einnehmen als der einzelne Nationalstaat Großbritannien, der zudem durch ein nicht unwahrscheinliches Unabhängigkeitsreferendum im pro-europäischen Schottland, neuen Spannungen in den Beziehungen zu Nordirland und einer durch innerparteiliche Machtkämpfe zerrütteten konservativen Regierungspartei mit innerstaatlichen Fliehkräften zu kämpfen haben wird. Und die EU würde wahrscheinlich auch eine harte Verhandlungsposition einnehmen, um an Großbritannien ein Exempel zu statuieren und mögliche Ansteckungsgefahren in anderen europaskeptischen Mitgliedstaaten zu unterminieren.
Schließlich stellt der Brexit eine Zäsur in der europäischen Integrationsgeschichte dar. Bislang gab es nur EU-Beitritte. Ein Austritt würde die Renationalisierungsbewegungen und deren Befürworter Auftrieb geben und europafeindliche, rechtspopulistische Kräfte wie Marie Le Pen, Geert Wilders und Nigel Farage zusätzlich befeuern. Auch wenn die EU-Mitgliedschaft in Großbritannien, das schon immer europaskeptischer als alle anderen war, bereits seit dem Beitritt 1973 höchst umstritten ist, haben die Briten 1975 mit 67,2 Prozent in einem Referendum für den Verbleib in der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft votiert.
Deutschland wird eine entscheidende Rolle zufallen
Heute sind die europapolitischen Konsequenzen des anstehenden Referendums in einer größeren und heterogeneren EU von unbekanntem Ausmaß. Denn selbst wenn die Briten knapp für den EU-Verbleib stimmen würden, wäre die britische Frage damit nicht gelöst. Ein neuerliches Referendum wäre zudem nicht unwahrscheinlich, da London weiterhin die EU als politische und institutionelle Gestaltungs- und Ordnungsstruktur infrage stellen und sich letztlich auch für eine Revision der EU-Verträge einsetzen würde, um die Ergebnisse der Neuverhandlungen der britischen EU-Mitgliedschaft vom Februar 2016 rechtlich zu verankern.
Auch die innereuropäischen Machtverhältnisse sind vom britischen Referendum betroffen. Eine entscheidende Rolle wird Deutschland zufallen – ob Brexit oder Bremain. Bei einer politischen Vertiefung der Währungsunion und der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik könnte Deutschland jedoch kaum auf London als Verbündeten zählen. Daher wird ein Brexit in der EU nicht gänzlich negativ gesehen, denn er bedeutet auch den Austritt eines Landes, das immer wieder als Integrationsbremse gewirkt hat. Auch die britische Europapolitik „à la carte“ hätte ein Ende. Doch sollte dabei nicht vergessen werden, dass London in vielen Fragen nicht der einzige Bremser in der EU gewesen ist, wie es sich etwa bei der aktuellen Flüchtlingspolitik zeigt.
Mit oder ohne Brexit – die EU muss sich generell mit grundlegenden Fragen der europäischen Integration auseinandersetzen. Die britische Europafrage am 23. Juni ist deshalb auch eine Frage über die Zukunft der EU.
Julia Klein ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Politik (IEP) in Berlin. Dort leitet sie seit April 2016 das Projekt „TruLies: The Truth about Lies on Europe“. Der Artikel ist zuvor bereits bei der Heinrich-Böll-Stiftung erschienen.