Die Politik braucht jetzt Leidenschaft

Wolfgang Schroeder, Universität Kassel

Seit August 2014 ist die ein Jahr zuvor gegründete AfD in 10 deutsche Landesparlamenten eingezogen. Damit ist sie unter den Neugründungen der letzten Jahrzehnte die erfolgreichste deutsche Partei geworden. Obwohl sie selbst keine Verantwortung anstrebt, hat sie seither die Richtung des Parteienwettbewerbs massiv beeinflusst. Dort wo sie ins Parlament eingezogen ist, wurden die bestehenden Zweier-Koalitionen abgelöst; vielfach mussten Dreierbündnisse an diese Stelle rücken. Auch wenn das Verhalten der AfD-Wähler als „Protest“ gedeutet wird, lässt sich dieses nicht mehr ignorieren. Und AfD Wähler pauschal als rechtsextremistisch abzukanzeln, wie dies mit der NPD, DVU oder den Republikanern noch möglich war, ist auch Vergangenheit. Wie sollen also die Volksparteien mit den Wählern der AfD umgehen?

Rechtspopulismus ist in Deutschland kein Tabu mehr

Das Diktum von Franz Josef Strauß, rechts von der Union sei die Wand, ist jedenfalls Geschichte. Deutschland hat eines seiner letzten Tabus verloren. Rechtspopulistisch zu wählen, kann offen und öffentlich ausgesprochen werden. Politikwissenschaftler sprechen davon, dass die AfD eine rechtspopulistische Angebots- und Repräsentationslücke geschlossen und sich das deutsche Parteiensystem der Entwicklung anderer europäischer Länder angeschlossen habe – sich also normalisiere. Doch damit sollte man sich nicht zufrieden geben.

Die starke Zuwanderung 2015 öffnete ein „Gelegenheitsfenster“, um die AfD von einer neoliberalen Anti-EU-Partei zu einer rechtspopulistischen und national-konservativen Formation umzuprogrammieren. Aber die AfD ist mehr als eine „Anti-Flüchtlingspartei“. In ihr lassen sich sehr unterschiedliche soziale, berufliche und mentale Herkünfte und Wertlagen identifizieren. Von rechtsextrem, rechtspopulistisch bis wertkonservativ, von proletarisch abgehängt bis bürgerlich situiert. Gemein ist diesen ihr fremdeln mit dem auf gleicher Freiheit  basierenden Projekt der demokratischen Moderne. Bislang konnten diese Positionen häufig in der CDU/CSU integriert werden, ohne dass an deren demokratischer Haltung Zweifel bestanden. Doch die modernisierte Union kann rechts- und nationalkonservativen Haltungen gegenwärtig kaum noch authentisch ansprechen.

Die AfD befeuert einen kulturellen Machtkampf innerhalb der Gesellschaft

Die AfD hat von allen anderen Parteien Wähler abwerben können. An erster Stelle stehen die neu mobilisierten Nichtwähler, von denen man dachte, sie seien am ehesten von links ansprechbar. Dazu gehören nicht nur Arbeitslose, Arbeiter und Verunsicherte, Opfer von Aufstiegsblockaden und Abstiegsdynamiken, sondern auch Menschen mit höheren Bildungsabschlüssen, mit mittlerem und hohem Einkommen. Im Osten kommt ein tief verankertes Gefühl hinzu, am neuen Staat nicht ausreichend beteiligt zu sein. Die PDS/Linke konnte das lange bündeln, weil sie dort aber meist schon dem Establishment zugerechnet wird, gelingt ihr dies immer weniger. Hinzu kommt die Sehnsucht im Osten, etwas politisch „Eigenes“ zu besitzen und es dem Westen „zu zeigen“. Es sind also nicht nur sozio-ökonomische, sondern auch kulturelle Dimensionen, die den Aufstieg der AfD erklären. Dazu zählen der im Osten und Westen gleichermaßen hohe Zuspruch bei Männern mittleren Alters sowie die geringere Akzeptanz bei weiblichen Wählern. Hinter dem Protest gegen genderorientierte Politik sowie einer weiblicher gewordene Gesellschaft steht eine grundlegendere Verunsicherung. Es gilt aber auch auf weitere Fremdheiten zu den politischen und kulturellen Präferenzen der Volksparteien hinzuweisen. Wer spricht dort mit welchem kulturellen Hintergrund, wer kümmert sich? Es geht also auch um das zu häufig akademisierte Bodenpersonal der deutschen Volksparteien, das oft mit den Alltagsproblemen durchschnittlicher Lebenslagen zu wenig anfangen kann.

Wenn also die AfD-Wähler nicht ignoriert werden können, was dann? Dort wo sie offensichtlich gegen die Wertebasis des Grundgesetzes zu Felde ziehen, müssen sie als Feinde der offenen Gesellschaft behandelt werden. Aber es muss auch erklärt werden, warum fremden-, frauen-, und demokratiefeindliche Positionen nicht akzeptiert werden können. Und vor allem muss vermittelt werden, warum in einer komplexen Gesellschaft einfache und direkte Lösungen im Zweifelsfall genau das Gegenteil bewirken. Es ist also von den Gegnern der AfD eine basalere Argumentation, auch philosophischere Haltung verlangt. Denn ein Denken ohne Alternativen ist für eine offene Demokratie nicht verträglich. Manchmal hat man aber den Eindruck, dass die Repräsentanten des Status quo unzureichend vorbereitet sind, diesen zu verteidigen. Eine werthaltige Politik kann man aber nur verteidigen, wenn man gleichzeitig eine Idee davon hat, wie der Status quo weiter entwickelt werden kann oder muss.

Nur mit Fakten ist gegen die emotionsgesteuerte Kampagne der AfD nicht anzukommen

Bessere Argumente sind gut, was aber tun, wenn dies nicht die Währung ist, in der die Kontroverse geführt wird? Tatsächlich agieren AfD-Aktivisten, aber auch viele der AfD-Wähler, als Repräsentanten „postfaktischer“ Politik, indem sie moralische und rationale Politik gleichermaßen bekämpfen. Sie bedienen sich Verschwörungstheorien, bringen unwahre Argumente, Zahlen und Bilder in Umlauf, emotionalisieren, skandalisieren und de-legitimieren die gegenwärtigen Herrschaftsverhältnisse. Mit einer klaren Ablehnung wahrheitswidriger und grundwertefeindlicher Positionen durch die etablierten Parteien ist es deshalb nicht getan. Denn diese Debatten stehen auch dafür, dass Politik etwas mit Emotionalität und Leidenschaft zu tun hat, was teilweise im technokratischen Politikbetrieb vergessen wird bzw. ihn überfordert.

Proteste sind wichtig, um auf Fehlentwicklungen des demokratischen Systems hinzuweisen. Deshalb darf man nicht auf extreme und populistische Forderungen eingehen; aber auf die dahinter liegenden Problemlagen sehr wohl. Einmal mehr zeigt sich in der Debatte über die AfD-Wähler die unzureichende Anschlussfähigkeit  mittelgroßer Volksparteien zu den gesellschaftlichen Lebenslagen und Alltagswelten. Also ein weiterer Akt in dem Stück „Zukunft der Volksparteien“, bei dem es um die Suche nach belastbaren Ideen und konkreten Antworten auf veränderte Lebensbedingungen geht. Dass dies in den vergangenen Jahren um ein vielfaches schwieriger geworden ist, liegt nicht nur an der gestiegenen gesellschaftlichen Komplexität, an Globalisierung und Ökonomisierung  sowie der Mediengesellschaft, sondern auch an unzureichenden Ideen in welche Richtung die Gesellschaft sich entwickeln soll. Das ist nicht nur ein Problem der Parteien, sondern ebenso der Kirchen, Gewerkschaften, Vereine und sozialen Bewegungen, die bei dieser Spurensuche mit einbezogen werden müssen. Kurzum: Die Debatte über die AfD ist auch eine Chance, um die technokratischen Perspektiven in den Volksparteien zurückzufahren und ihre Visionen von einem besseren Leben und Zusammenleben zu verstärken.

Wolfgang Schroeder ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Kassel und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Progressiven Zentrums. Dieser Artikel erschien zuerst am 19. Oktober 2016 im Magazin Causa im Rahmen der Debatte „AfD-Wähler: Herausforderung für die Politik?“.