ZEIT FÜR DIE DEKONSTRUKTION VON VORURTEILEN UND FEINDBILDERN ZU EUROPA
Dr. Funda Tekin & Julia Klein, IEP
In Europa, aber auch in Deutschland, nimmt das europaskeptische Potenzial zu und der bisher vorherrschende pro-europäische Grundkonsens fängt an zu bröckeln. Ganz offensichtlich hat sich der allgemeine Vertrauensverlust gegenüber Europa, der sich in den Ängsten, Sorgen und Frustrationen, unter anderem hinsichtlich der Brüsseler Bürokratie und „Regelungswut“ oder den Möglichkeiten zum Sozialmissbrauch durch die Freizügigkeit im Binnenmarkt, manifestiert, ausgeweitet und verstärkt.
Europaskeptizismus und Populismus: Eine erste Ursachenforschung
Zum einen müssen die substanziellen Vertiefungsschritte des Vertrags von Lissabon noch verarbeitet werden. Gleichzeitig hat dieser Vertrag – wie seine Vorgänger – weder die Institutionenkomplexität reduzieren, noch das Demokratie Defizit der EU zufriedenstellend abbauen können. Dennoch war dieses Regelwerk von 2009 so angelegt, dass langwierige Vertragsverhandlungen in naher Zukunft nicht notwendig werden sollten. Diese Überzeugung wurde jedoch unverzüglich herausgefordert, denn nach dem Ausbruch der internationalen Finanzkrise in 2008 griff diese 2010 auf die Eurozone über.
Seitdem haben verschiedene Krisen, wie die Staatsverschuldungskrise, die Governancekrise und die Wirtschaftskrise, die Europäische Union (EU) allgemein, und die Wirtschafts- und Währungsunion ganz speziell herausgefordert. Neben der Notwendigkeit einer Bankenunion und Stabilitätsmechanismen galt es auch, exorbitant hohe Arbeitslosigkeitsraten, insbesondere bei den Jugendlichen, in den am härtesten betroffenen Ländern wie Spanien, Portugal und Italien zu bekämpfen. Da eine erneute Vertragsrevision weder vorgesehen noch vorstellbar war, wurden die notwendigen Reformen im Rahmen des Lissabonner Vertrags oder, wo nötig, auch in Form von internationalen Abkommen und Verträgen reformiert. Dies hat die Komplexität des Regelwerks noch erhöht.
Darüber hinaus wurde den Staats- und Regierungschefs in ihrem Krisenmanagement in der Eurozone vorgeworfen, dass sie ein sogenanntes ‚muddling through’ betrieben und es an einer allgemeinen Vision und Zieldefinition fehlte. Zusätzlich herrschte Uneinigkeit in der EU über die richtige Krisenpolitik in der Eurozone. Einer strikten Sparpolitik wurde die Überzeugung, dass Länder lediglich durch eine expansive Geld- und Fiskalpolitik von der Krise gesunden könnten, entgegengestellt. Dieser Konflikt kulminierte im Sommer 2015 in einem drohenden Austritt Griechenlands aus der Eurozone (GREXIT). Der GREXIT befeuerte aber auch erneut die Debatte um die Möglichkeit und Notwendigkeit eines Bail-outs in der Eurozone. Somit wurden die Grenzen der Solidarität zwischen den EU-Mitgliedstaaten zum ersten Mal intensiv debattiert.
Die Pläne der EU für eine Transatlantische Freihandels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) sahen sich mit der Kritik konfrontiert, dass die entsprechenden Verhandlungen zu intransparent und hinter verschlossenen Türen vonstattengegangen seien. Zusätzlich wurden die unterschiedlichen Produktstandards auf beiden Seiten des Atlantiks intensiv diskutiert.
Die aktuellste Krise ist jedoch der Ansturm von Flüchtlingen, die seit Ende des Sommers 2015 von der Türkei über den Balkan nach Deutschland kommen. Offizielle Zahlen werden für das Jahr 2015 nicht mehr prognostiziert. Diese Flüchtlingskrise hat dazu geführt, dass in Europa wieder Zäune gebaut (siehe Ungarn) und Grenzkontrollen zeitweise wieder eingeführt (siehe Deutschland, Schweden) werden. In Deutschland hat Bundeskanzlerin Merkel mit ihrer Aussage „Wir schaffen das“ eine sogenannte Willkommenskultur befeuert. Allerdings hat diese Willkommenskultur angesichts des nicht nachlassenden Flüchtlingszustroms erste Risse bekommen, und Forderungen nach Transitzonen und Aufnahmelimits wurden laut.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die grundlegende Befürwortung des europäischen Integrationsprozesses in den letzten Jahren unter extremen Druck geraten ist. Denn Bürgerinnen und Bürger entwickeln soziokulturelle Unsicherheiten und Ängste sowie wirtschaftliche und soziale Verlustängste. Dies eröffnet einen Spielraum für europaskeptische sowie populistische Parteien und Bewegungen. Anschläge von islamistischen Extremisten wie die in Paris Anfang diesen Jahres und am Freitag, 13. November 2015, durch den Islamischen Staat erhöhen die Verunsicherung der Bürgerinnen und Bürger, was populistischen und europaskeptischen Parteien und Bewegungen weiteren Zulauf bescheren könnte.
Populistischer Europaskeptizismus: Eine Begriffsfindung
Allgemein lassen sich all jene Einstellungen und Meinungen, die gegen die EU und den europäischen Integrationsprozess entweder prinzipiell (‚hart‘) oder lediglich in Bezug auf konstituierende Aspekte (‚soft‘) gerichtet sind, unter dem Begriff Europaskeptizismus subsummieren (Kopecký/Mudde 2002: 299; siehe auch Szczerbiak/Taggart 2003). Die jeweilige Ausprägung und Ausgestaltung europaskeptischer Meinungen spannt sich dabei in einem Kontinuum zwischen den zwei Extrempolen „Europaphopbiker“, die die europäische Integration und die EU (EU-Pessimisten) pauschal ablehnen, und „Europaenthusiasten“, die den europäischen Integrationsprozess und die EU (EU-Optimisten) pauschal unterstützen, auf.
Der harte Europaskeptizismus der Europaphobiker fordert beziehungsweise wird mit zunehmender Nähe zur weichen Ausprägung in letzter Konsequenz den Austritt aus der EU fordern. Der weiche (soft) Europaskeptizismus stellt die europäische Integration als solche nicht in Frage, unterscheidet sich vom Europaenthusiasmus aber insofern, dass er Skepsis über den aktuellen Kurs des Prozesses bis hin zur Ablehnung bestimmter institutionell-systemischer und/oder politisch-inhaltlicher Aspekte äußert.
Eine solche System- beziehungsweise Policy-Kritik kann dabei zwei Ausrichtungen haben. Revisionistische Meinungen fordern die Rückverlagerung von Kompetenzen und die Stärkung nationaler Souveränität (zum Beispiel die Wiedereinführung von Grenzen im Schengenraum, Austritt aus dem Euro, Stärkung des Subsidiaritätsprinzips, Kampf gegen die Brüsseler Regelungswut). Reformistische Forderungen zielen hingegen auf mehr Integration in bestimmten Policy-Bereichen ab und fordern einen Richtungswechsel, eine andere EU oder einen Neustart.
Europaskeptizismus bedient sich des Öfteren einer populistischen Rhetorik. Populismus kann allgemein als Emotionalisierung der Politik definiert werden. Populisten greifen in diesem Sinne Sorgen und Ängste der (einfachen) Bürger auf und definieren diese als allgemeinen Volkswillen, den es gegenüber der Elite zu vertreten gilt (Legath 2013).
Europaskeptizismus und Populismus: Mögliche Wirkungen
EU-Skepsis hat nicht per se eine destruktive Wirkung. In Deutschland wird sogar eine kritischere Debatte zu Europa gefordert (Beichelt 2010; Hartleb 2013). Eine populistische europaskeptische Rhetorik wird allerdings Vorurteile und Feindbilder zur EU schüren. Bei Vorurteilen handelt es sich um stabile negative Einstellungen, die meist nicht auf eigenen Erfahrungen beruhen, sondern von anderen übernommen werden und häufig wenig mit der tatsächlichen Realität korrespondieren (Bergmann 2006). Hierzu zählt beispielsweise die Brüsseler „Regelungswut“, die als gängiges Vorurteil instrumentalisiert wird. Feindbilder sind soziale Deutungsmunster, die auf einer Schwarz-Weiß-Sicht der Welt basieren und einfache Wahrheiten suggerieren, wobei das negativ ‚Fremde‘ beziehungsweise ‚andere‘ (zum Beispiel der Euro) dem positiv ‚Bekannten‘ beziehungsweise ‚eigenen‘ (zum Beispiel die D-Mark) gegenübergestellt wird (siehe auch Nuscheler/Rheims 1995). Feindbilder werden von Politikern aufgebaut, die eine populistische Strategie der Emotionalisierung der Politik durch Ausbeutung von Ängsten und Befürchtungen verfolgen.
Europaskeptizismus und Populismus: Was ist zu tun?
Das allgemeine Ziel sollte die Versachlichung der Debatte zu Europa mit Hilfe der Dekonstruktion von Falschbehauptungen, Feindbildern und Vorurteilen sein. Dabei soll auch einem Transfer des populistischen Europaskeptizismus in den politischen Mainstream entgegengewirkt werden. Zu diesem Zweck werden europaskeptische und populistische Argumente identifiziert, gesammelt und entsprechend nach Themen und parteipolitischen Orientierungen geclustert. Diese Inhaltsanalyse soll zu einem differenzierteren und besseren Verständnis der europäischen Integration beitragen. Was sind die Inhalte der europaskeptischen und populistischen Aussagen und Behauptungen? Was davon sind „reale Wahrheiten“ und was davon sind „einfache Wahrheiten“, die angesichts einer vielfältig komplexen und hoch interdependenten Realität irreführend sind? Wie ändern sich diese Argumente im zeitlichen Verlauf?
Europaskeptizismus, insbesondere in seiner weichen Form, der auf spezielle Detailfragen abzielt, ist vielschichtig und divers, sodass es einer detaillierten Analyse von Aussagen bedarf, um dabei die berechtigt kritischen Argumente von den populistischen zu trennen. Auch gilt es dabei, die Relativität von Aussagen zu markieren. So kann zum Beispiel die Kritik, dass die bisherigen Verhandlungen zum TTIP zu intransparent und hinter verschlossenen Türen vonstattengegangen sind, gut nachvollzogen werden. Die weitverbreitete Angst vor dem Chlor-Hühnchen, welches fast zum Synonym für die TTIP-Kritik geworden ist, korrespondiert hingegen nicht mit dem meist unbekümmerten Schwimmen von hunderttausenden von Kindern in Deutschland in gechlortem Wasser öffentlicher Schwimmbäder, wobei nicht selten auch noch Wasser geschluckt wird.
Das Projekt „TruLies: The Truth about Lies on Europe“ erkennt die Notwendigkeit einer kritischen Auseinandersetzung mit der EU und der europäischen Integration. Daher soll ein wichtiger Beitrag zur Versachlichung der Debatte geleistet werden. Dabei wird die Rückbesinnung auf die Grundwerte der EU als essentiell angesehen. Keine EU ist auch keine Lösung – daher müssen Fakten der europäischen Integration herausgearbeitet und in den richtigen Kontext gesetzt werden.
Weitergehende Überlegungen zu den theoretischen und begrifflichen Grundlagen von Europaskeptizismus finden Sie hier.
Referenzen:
Beichelt, Timm (2010): EU-Skepsis als Aneignung europäischer Politik, in: Berliner Debatte Initial, 2/2010, S. 3-16.
Bergmann, Werner (2006): Was sind Vorurteile, Informationen zur politischen Bildung, Bundeszentrale für politische Bildung, 13. Januar 2006, unter: http://www.bpb.de/izpb/9680/was-sind-vorurteile?p=all.
Hartleb, Florian (2013): (Anti)europäische Normalität, Beitrag zur Debatte Die AfD und die Debatte um Europa in Deutschland, in: The European, Das Debattenmagazin, 11. Mai 2013, unter: http://www.theeuropean.de/florian-hartleb/6855-die-afd-und-die-debatte-um-europa-in-deutschland.
Kopecký, Petr/Mudde, Cas (2002): The Two Sides of Euroscepticism, in: European Union Politics, Volumen 3, Nr. 3, S. 297-326.
Legath, Lars (2013): Populismus in den EU-Staaten, in: Große-Hüttmann, Martin/Wehling, Hans-Georg (Hrsg.): Das Europalexikon, 2. Aktualisiert Auflage, Bonn, Bundeszentrale für politische Bildung, unter: http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/177203/populismus-in-den-eu-staaten.
Nuscheler, Franz/Rheims, Birgit (1995): Braucht die Politik Feindbilder?, in: Hilpert, Konrad/Werbick, Jürgen (Hrsg.): Mit den Anderen leben, Düsseldorf, S. 246-266.
Szczerbiak, Aleks/Taggart, Paul (2003): Theorizing party-based euroscepticism: Problems of definition, Measurement and causality. SEI Working Paper Nr. 69, European Parties and Referendums Network Working Paper Nr. 12.