Populismus in Luxemburg

Jean-Marie Majerus, Europäisches Studien- und Forschungszentrum Robert Schuman

„Mir wëlle bleiwe wat mir sin.“ Diese nationale Devise Luxemburgs entstand im 19. Jahrhundert, dem Zeitalter der Herausbildung des Nationalbewusstseins, und sollte auf die Unabhängigkeit des Großherzogtums verweisen. Zum Entsetzen vieler Luxemburger jedoch wurde dieser Satz mehr als hundert Jahre später von der mittlerweile aufgelösten, rassistischen luxemburgischen „Nationalbewegung“ unter Pierre Peters, einem wegen Fremdenhasses verurteilten Diplomvolkswirt, verwendet. Die Luxemburger sind einerseits zwar bodenständig, doch dank ihrer Mehrsprachigkeit und ihrer Weltoffenheit ist Fremdenhass in der Regel ein Fremdwort in Luxemburg. Dementsprechend stellt sich die Frage, ob Luxemburg ein Land ist, „welches gegen den Rassismus immunisiert ist“, wie eine soziologische Studie im Jahre 1997 schlussfolgerte. Die Frage, die sich an diese Überlegung schließt, ist folgende: Warum sind populistische Parteien in verschiedenen Ländern Westeuropas relativ erfolgreich, während sie in anderen scheitern?

In den unmittelbaren Nachbarregionen Luxemburgs haben rechtsextreme bzw. populistische Parteien in den letzten Jahren wiederholt sichtbare Erfolge erzielt. Man kann sich fragen, wie die Wähler in den Nachbarländern Luxemburgs erst reagieren würden, wenn sie mit demografischen Fakten konfrontiert wären, wie sie in Luxemburgs selbstverständlich sind. Im Jahr 2016 waren 46% der 560.000 Einwohner des Großherzogtums Nichtluxemburger, gleichzeitig wächst die Bevölkerung jährlich regelmäßig um 15.000 Zuwanderer. Es liegt dementsprechend auf der Hand, dass in wenigen Jahren die Zahl der Ausländer diejenige der Luxemburger übersteigen wird. Dies wäre bereits im Jahre 2017 der Fall gewesen, wenn nicht der Gesetzgeber 2008 die Möglichkeit der doppelten Staatsbürgerschaft geschaffen hätte. Außerdem kommen jeden Tag rund 220.000 Grenzgänger nach Luxemburg und arbeiten im Großherzogtum. Dementsprechend kippt tagsüber die nachts noch vorhandene Mehrheit, und die Luxemburger werden nach Sonnenaufgang regelmäßig zu einer Minderheit in ihrem eigenen Land. In der Hauptstadt Luxemburg-Stadt wohnen mittlerweile 75% Ausländer – und doch ist „Multikulti“ hier kein Schimpfwort, sondern täglich gelebte Wirklichkeit.

„Luxemburgische Mischkultur“ und die Rolle des „ehrlichen Maklers“

“Unter starken französischen und deutschen Einflüssen entwickelte sich im 19. und 20. Jh. in Luxemburg eine spezifisch luxemburgische Kultur“, stellt der deutsche Politologe Wolfgang Lorig fest. Batty Weber, angesehener liberaler Journalist der Zwischenkriegszeit, prägte den Begriff der „luxemburgischen Mischkultur“. Weil die Luxemburger jahrhundertelang Opfer kriegerischer Auseinandersetzungen ihrer beiden übermächtigen Nachbarn gewesen sind, zeichnet sie ein angeborener Sinn des Ausgleichs, der des „ehrlichen Maklers“, aus. Der luxemburgische Stahlmagnat Emile Mayrisch sowie der in Luxemburg geborene französische Europapolitiker Robert Schuman bemühten sich in der Folge jahrzehntelang erfolgreich um einen deutsch-französischen Ausgleich.

Die luxemburgische Sprache, ein moselfränkischer Dialekt mit vielen französischen Lehnwörtern, bleibt bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts eine bloße Kommunikationssprache im täglichen Umgang. Sie erlebt ein regelrechtes Aufblühen nach dem Zweiten Weltkrieg und ersetzt die wegen der Nazidiktatur in Luxemburg verfemte deutsche Sprache als Parlamentssprache. Dennoch schafft sie den Aufstieg zur gleichberechtigten Amtssprache nicht unmittelbar. Erst im Jahre 1984 wird die luxemburgische Sprache die dritte Amtssprache des Landes. Die deutsche Sprache hingegen bleibt in Luxemburg vor allem im Zeitungswesen und in der Literatur vorherrschend, während das Französische sich als einzige Sprache der Legislative durchsetzen kann.

Eine Europahauptstadt am Puls der EU

Der ausgeprägte Patriotismus der ersten Nachkriegsjahre verblüht in der Folge allerdings rasch. Luxemburg wird mit großer Begeisterung Gründungsmitglied der EGKS und somit zugleich auch erste Europahauptstadt. Diese physische Nähe der Luxemburger zu europäischen Verwaltungen verhindert möglicherweise im Großherzogtum die typische antieuropäische Stimmung, welche mittlerweile in zahlreichen Mitgliedsstaaten verbreitet ist. Auch die herausragende Rolle luxemburgischer Europapolitiker (Joseph Bech, Pierre Werner, Gaston Thorn, Jacques Santer sowie Jean-Claude Juncker) verleiht vielen Luxemburgern als Bewohner eines Kleinstaates das Gefühl, an der Gestaltung Europas beteiligt zu sein und nicht, wie in den Jahrhunderten zuvor, lediglich als Spielball der Großmächte zu erscheinen. Laut Umfragewerten von Eurobarometer ist die Zustimmung der Luxemburger für eine europäische Einigung immer noch eine der höchsten in der EU. Natürlich spielen hierbei auch die wirtschaftlichen Vorteile, welche Luxemburg aus der Mitgliedschaft der EU zieht, eine entscheidende Rolle.

War es die Angst vor einer Überfremdung durch „vaterlandslose EWG-Beamte“, welche Premierminister Bech im Jahre 1957 bewog, Jean Monnets Vorschlag zur Schaffung eines exterritorialen Europabezirks in Luxemburg-Stadt abzulehnen, oder sorgte er sich in erster Linie um das Überleben eines westeuropäischen Kleinstaates? Monnet jedenfalls war von der Haltung Bechs enttäuscht. Letzterer verpasste allerdings auch bewusst die Gelegenheit, seine Muttersprache, das Luxemburgische, als eine offizielle Mitgliedssprache der Europäischen Gemeinschaft anerkennen zu lassen. Immerhin gelten das Gälische und das Maltesische heute als offizielle Sprachen der EU, während das Luxemburgische diesen Status bis heute nicht erfährt. Allerdings befasst sich die Regierung im Jahr 2017 mit dem Gedanken, diesen Missstand zu beheben, angetrieben von einer äußerst erfolgreichen Petition, die fordert, luxemburgische Sprache als erste Amtssprache im Großherzogtum zu institutionalisieren.

Luxemburgische Sprache und Kultur als politisches Thema: populär oder populistisch?

Zu Anfang der Achtzigerjahre des 20. Jahrhunderts entwickeln sich in Luxemburg politische Bewegungen, die ansatzweise an das populistische Gedankengut der Vorkriegszeit anknüpfen. Die massive Einwanderung, der scheinbar drohende Verlust der nationalen Identität, eine allgemeine Wertekrise sowie die Globalisierung der Wirtschaft und vor allem die Einführung des Wahlrechts für Nichtluxemburger bei Gemeinde- und Europawahlen erhitzen die Gemüter. Der bereits zuvor erwähnte Pierre Peters, aber auch gemäßigte Politiker wie Lex Roth, ein Verfechter der Aufwertung der luxemburgischen Sprache, fordern eine größere Anerkennung der luxemburgischen Eigenart und der Sprache. Bei den Landeswahlen in den späten Neunzigerjahren erzielen diese Parteien jedoch nur geringe Erfolge.

Allerdings ist die Verteidigung der luxemburgischen Eigenart und insbesondere die Aufwertung der luxemburgischen Sprache ein Thema, das nicht nur „Populisten“ ein wichtiges Anliegen ist. So kennt im Jahre 2007 eine Petition, welche die luxemburgische Trikolore – der holländischen Fahne bis auf den etwas helleren Blauton zum Verwechseln ähnlich – durch den sogenannten „Roten Löwen“ ersetzen will, massive Zustimmung. Immerhin kann Premierminister Jean-Claude Juncker die tatsächliche Umsetzung dieser äußerst populären Forderung hinauszögern und die 2008 einsetzende Finanzkrise sowie die hieraus resultierenden wirtschaftlichen Probleme verhindern in der Folge, dass es zu einer Volksbefragung kommt. Dem Urheber der Initiative, dem christlich-sozialen Abgeordneten und früheren Minister Michel Wolter, unterstellen manche politische Beobachter in jener Zeit populistische Beweggründe.

Die „Alternative Demokratische Partei“ (ADR) wird häufig von den anderen im Parlament vertretenen Parteien als „populistisch“ bezeichnet. Der französische Politologe und Extremismusforscher Jean-Yves Camus kann dieser Charakterisierung jedoch keineswegs zustimmen: „Die ADR ist eine Partei der Rechten. Manche ihrer Sprecher weisen auch populistische Züge auf, etwa in der Sprache und Einwanderungspolitik. Auch in den sozialen Netzwerken gibt es solche Tendenzen, sie bleiben aber doch sehr begrenzt. Die ADR stellt zum Beispiel die Flüchtlingspolitik […] nicht in Frage.“ Tatsächlich erwähnt die ADR nicht einmal Obergrenzen für Flüchtlinge, wie etwa die CSU in Deutschland; eine Einstellung, die zweifelsohne nicht der Denkweise der zuvor erwähnten „Nationalbewegung“ entspricht. Die ADR entstammt einer Ein-Punkt-Bewegung, welche die Angleichung der Renten des Privatsektors an die des öffentlichen Dienstes verlangt. Jean-Claude Juncker hat diese Forderung im Jahre 2012 als gerechtfertigt bezeichnet und in seinem Beitrag zur Festschrift anlässlich des 25-jährigen Jubiläums der Partei gewürdigt. 1994 allerdings hat er noch verkündet, dass es sein Ziel sei, die ADR von der politischen Bühne verschwinden zu lassen. Seit 2006 hat diese Ein-Punkt-Partei jedoch ein breitgefächertes Programm, welches nicht nur die Rentenfrage, sondern auch andere Themen anspricht – gleichzeitig hat sie zweimal ihren Namen geändert. Bei den Landeswahlen 1999 erzielt sie den bisher größten Wahlerfolg mit 11% und erhält sieben von sechzig Sitzen. Sie hat sich in der Folge auch europäische Partner gesucht, ist schließlich Mitglied der „Allianz der Europäischen Konservativen und Reformisten“ geworden, verfügt allerdings im Moment noch nicht über ein Mandat im Europaparlament. Philippe Poirier, Politologe an der Universität Luxemburg, beschreibt seinerseits die ADR als eine „konservative, souveränistische Bewegung“, welche sich als Ausdruck der „luxemburgischen Identität“ versteht. Es ist daher verständlich, dass die ADR 2005 beim Referendum um den EU-Verfassungsvertrag zum „Nein“-Votum aufgefordert hat.

„NEE-2015“ straft mit einem Referendum die Regierungsparteien ab

Ausgehend von zweifelhaften Umfragewerten sowie vom recht geringen Widerstand der Luxemburger gegen die Beteiligung von Ausländern an Gemeinde- und Europawahlen glaubt die seit 2013 regierende Koalition, das allgemeine Ausländerwahlrecht unter bestimmten Bedingungen einführen zu können. Im Jahre 2015 wählt sie dabei den recht gefährlichen Umweg über eine Volksbefragung. Möglicherweise haben die Regierungsparteien hierbei nicht in Erwägung gezogen, dass bei Referenden mancher Wähler es vorzieht, seinem Missmut über eine Regierung Ausdruck zu verleihen, anstatt konkret auf die gestellten Fragen zu antworten. Von besonderer Bedeutung ist sonder Zweifel die dritte Frage gewesen, welche das Ausländerwahlrecht bei Parlamentswahlen thematisiert. In einem Zeitungsbeitrag kritisiert Robert Goebbels die Handlungsweise seiner  Parteigenossen: “Intellektuelle, Künstler, Vorzeigeunternehmer, die Handelskammer, (die Vertretung der Lohnempfänger) sowie praktisch die gesamte geschriebene Presse haben zusammen mit der Regierung und den Regierungsparteien für das „Ja“ beim Referendum geworben. Die christdemokratische Opposition (CSV) hat dem Wähler „etwas verlegen“ das „Nein“ empfohlen, während sich lediglich die des Populismus bezichtigte ADR klar für ein „Nein“ ausgesprochen hat. Eine spontan entstandene Bürgerbewegung mit dem Namen „NEE-2015“ kämpft vor dem Referendum verbissen für das „Nein“ und heftet sich später den „Sieg“ an die eigene Brust. Unmittelbar nach dem Referendum bildet sich eine Facebook-Gruppe mit dem Namen „Neiwahlen Letzebuerg“, welche sich später mit der Bürgerbewegung zu „NEE 2015-WEE 2050“ vereinigt und ein restriktives Nationalitätengesetz sowie die Aufwertung der luxemburgischen Sprache fordert. Die Kommentare auf Facebook lassen ihrerseits auf eine unmittelbare Nähe der beiden Bewegungen zur ADR schließen.

Wird der Eindruck der „80-20-Gesellschaft“ auch bei Wahlen bestätigt?

Das Ergebnis des Referendums von 2015 ist in der Tat sowohl eindeutig als auch ernüchternd. Auf alle drei gestellten Fragen antworteten rund 80% der Wähler mit „Nein“. Seit dem Referendum hat sich in Luxemburg der Begriff „80-20 Prozent-Gesellschaft“ eingebürgert. Allerdings wäre es falsch zu behaupten, dass seit 2015 Populisten 80 Prozent der Gesellschaft in Luxemburg ausmachen. Möglicherweise greift der Begriff „80-20 cleavage“, den die inländische Presse gerne benutzt, tatsächlich zu kurz. Die politischen Folgen dieser gesellschaftlichen Spaltung werden möglicherweise bei den nächsten Landeswahlen im Jahre 2018 zu beobachten sein. Viel wird davon abhängen, ob es der ADR gelingen wird, die Hauptprotagonisten der NEE-2015-Bürgerbewegung für ihre Kandidatenlisten zu gewinnen. Die Zufälle der Wahlarithmetik werden im Übrigen mitentscheiden, ob die ADR geschwächt oder gestärkt aus diesen Wahlen hervorgehen wird.[1]

Dann wird sich auch zeigen, ob Luxemburg ähnliche politische Verwerfungen erleben wird wie andere westeuropäische Demokratien oder ob das Land eine „Insel der Seligen“ in einem populistischen Meer bleiben kann.


[1] Bei den Wahlen zur Abgeordnetenkammer gilt das allgemeine Wahlrecht, um die 60 Abgeordneten zu bestimmen (23 für den Wahlbezirk Süden, 7 für den Wahlbezirk Osten, 21 für den Wahlbezirk Zentrum und 9 für den Wahlbezirk Norden), die im luxemburgischen Einkammersystem das nationale Parlament bilden. Die Abgeordneten werden per Listenwahl nach dem Verhältniswahlsystem gewählt und in Übereinstimmung mit dem Prinzip des kleinsten Wahlquotienten. Dies führt dazu, dass eine Partei bevölkerungsreichsten Bezirk (Süden) etwa 2% der Stimmen braucht um einen Sitz zu erhalten im kleinsten Bezirk (Osten) aber 14% . Diese Tatsache wird von den kleineren Parteien als ungerecht empfunden. Sie fordern deshalb einen einzigen Wahlbezirk für das ganze Land. Der Restsitz wird manchmal durch Zufall verteilt weil er von relativen Stärke der verschieden Parteien abhängt. Wenige Wählerstimmen können entscheiden, welche Liste den noch zu vergebenden Restsitz erhält.


Jean-Marie Majerus ist Beigeordneter Direktor des „Centre d’études et de recherches européennes Robert Schuman (CERE)“ (Europäisches Studien- und Forschungszentrum Robert Schuman)