Der Front National: Eine “entdiabolisierte“ Partei?
Aurora Bergmaier, LMU München
Seit der letzten Wahl zum Europaparlament im Jahr 2014 konnte sich der Front National (FN) bei jeder Abstimmung im ersten Wahlgang als stärkste Kraft durchsetzen und war stets fähig, die absolute Zahl seiner Wähler in der Stichwahl weiter zu steigern. Wie kam es dazu, dass sich der FN – immerhin seit 45 Jahren Bestandteil der französischen Parteienlandschaft – ausgerechnet in den letzten Jahren eine derart stabile Wählerschaft aufbauen konnte und somit nicht mehr nur von Parteimitgliedern, sondern auch von anderen politischen Akteuren sowie einigen Medien als „le premier parti de France“ bezeichnet wird?
Gewiss ist der sich wandelnde politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Kontext in Frankreich eine Ursache des wachsenden Zuspruchs für den Front National. Doch hätten Herausforderungen wie die verschärfte Sicherheitslage vermutlich nicht ausgereicht, um der Partei bei den Regionalwahlen 2015 die Zustimmung von über 6 Millionen französischen Wählerinnen und Wählern zu verschaffen. Hierzu bedurfte es der (vermeintlichen) Neuausrichtung der Partei, welche 2011 von der neuen Parteivorsitzenden Marine Le Pen ausgerufen wurde. Der entscheidende Unterschied zwischen ihrer Strategie und der ihres Vorgängers und Vaters Jean-Marie Le Pen besteht darin, dass Marine Le Pen das politische System Frankreichs nicht mehr aus der Opposition heraus destabilisieren möchte, sondern es vielmehr von innen heraus verändern will. Daher ist es ihr oberstes Ziel, den FN für breitere gesellschaftliche Schichten wählbar zu machen und somit auch auf nationaler Ebene Macht zu erlangen. Dies soll durch eine „Entdiabolisierung“ der Partei erreicht werden, sprich durch die Befreiung des FN von seinem rechtsradikalen Image. Im Folgenden werden drei zentrale Elemente des Strategiewechsels unter Marine Le Pen näher beschrieben.
Islamophobie statt Antisemitismus
Eine der meistbeachteten Änderungen im offiziellen Parteidiskurs ist die Abkehr von antisemitischen Äußerungen. Während Jean-Marie Le Pen die Gaskammern der Konzentrationslager noch als Detail in der Geschichte des Zweites Weltkriegs bezeichnete, verurteilt die neue Vorsitzende den Holocaust als Gipfel der Barbarei. Zahlreiche Parteiausschlüsse rechtsextremer Mitglieder sollen den FN von seinem wohl markantesten Stigma befreien – auch Jean-Marie Le Pen selbst wurde medienwirksam die Mitgliedschaft entzogen. Die Distanzierung von der antisemitischen Parteiideologie erfolgt oft in Verknüpfung mit der Kreierung des neuen Feindbildes „Islam“: So gibt sich Marine Le Pen bei Gegendemonstrationen zu pro-palästinensischen Veranstaltungen als Beschützerin der jüdischen Gemeinschaft vor antisemitischen Muslimen und konstruiert den Islam als gemeinsame Bedrohung.
Gleichzeitig wird die Islamophobie der neuen Vorsitzenden subtiler transportiert als der Antisemitismus ihres Vaters. So bedient sich Marine Le Pen exzessiv des Laizismus-Begriffes, um Muslime auch ohne explizite Benennung angreifen zu können: Sie wendet das Prinzip einer Trennung von Kirche und Staat auf den gesamten öffentlichen Raum an und macht durch selektiv gewählte Beispiele (wie den Bau von Moscheen) deutlich, dass sich ausschließlich der Islam vollständig ins Private zurückziehen solle. Gleichzeitig verzichtet sie auf die eindeutig rassistischen Äußerungen ihres Vaters und verwendet statt des Begriffs der Rasse jenen der Ethnie. Daneben werden von Jean-Marie Le Pen verwendete Termini im Bereich der Identitätsfragen abgeschwächt, z.B. ersetzte Marine Le Pen den Begriff der préférence nationale (nationalen Bevorzugung) durch jenen der priorité nationale (nationale Priorität). Die inhaltliche Bedeutung bleibt hingegen die gleiche – auch die neue Parteivorsitzende fordert eine Besserstellung von Franzosen, unter anderem bei der Arbeitsplatzvergabe.
Der Front National wechselt das Feindbild: Vom Judentum zum Islam
Auf diesem Wege vermag es Marine Le Pen, den Tabubruch des Antisemitismus zu vermeiden und gleichzeitig den Islam als neues Feindbild aufzubauen. Durch ihre Verzerrung republikanischer Werte stellt sie den Front National als moderne Partei dar, die westliche Werte gegen einen reaktionären, homophoben und den Rechtsstaat bedrohenden Islam verteidigt. Mittels einer Verbindung mit Elementen des „Femonationalismus“ kann sie zugleich die Wählergruppe der Frauen besser erreichen als ihr Vater. Indem Marine Le Pen rassistische Botschaften sehr viel geschickter in den Subtext ihrer Aussagen integriert, werden gemäßigtere Wähler nicht abgeschreckt; gleichzeitig gewährleistet die Beibehaltung gewisser Schlüsselbegriffe, dass sich auch die traditionelle Wählerklientel weiterhin angesprochen fühlt. Darüber hinaus ist der FN-Diskurs in Identitätsfragen extrem anpassungsfähig: Im Rahmen der Flüchtlingskrise und der islamistischen Terroranschläge betonte die Partei wieder verstärkt ihre radikale, autoritäre und nationalistische Seite. Die hohen Zustimmungswerte für die Partei bei der Regionalwahl 2015 belegen, dass auch eine solche Verschärfung des Diskurses Anklang bei der Wählerschaft findet.
Etatismus statt Neoliberalismus
Eine zweite zentrale Veränderung ist hinsichtlich der wirtschaftspolitischen Positionen zu beobachten. Diese erfuhren im Diskurs führender FN-Politiker zum einen rein quantitativ einen Bedeutungszuwachs, zum anderen aber auch einem erheblichen inhaltlichen Linksruck. Grundlage der Argumentation Marine Le Pens ist die Annahme, Frankreich habe die Kontrolle über seine eigene Wirtschaft verloren und leide unter anderem unter billigen Arbeitskräften aus dem Ausland. Bei der Wiederherstellung der ökonomischen Souveränität des Landes und der Eindämmung der Auswirkungen der Globalisierung billigt die neue Vorsitzende dem Staat konsequenterweise eine Schlüsselrolle zu, was eine fundamentale Abkehr von den neoliberalen Grundsätzen ihres Vaters bedeutet. Aus diesem Paradigmenwechsel leiten sich Forderungen nach der Kündigung von Freihandelsabkommen (Stichwort „intelligenter Protektionismus“), einer staatlichen Industrieförderung, hohen Sozialleistungen, Investitionen in den öffentlichen Sektor und nach der Verstaatlichung notleidender Banken ab. Zuletzt kam, im Einklang mit der sogenannten priorité nationale, der Vorschlag einer zusätzlichen Steuer auf ausländische Arbeitnehmer hinzu.
Wirtschaftspolitisch hat die Partei einen Paradigmenwechsel vollzogen
Der „neue“ Front National lässt sich somit weitaus schwieriger im klassischen Rechts-Links-Spektrum verorten. Marine Le Pen ist nicht die erste französische Politikerin, die von sich behauptet, weder links noch rechts („ni droite ni gauche“) zu sein. Diese angeblich „unideologische“ Politik spiegelt sich im neuen Parteilogo – einer sozialistischen Rose in republikanischem blau – wider. Jedoch ist ihre Kombination aus nationalistischer Xenophobie und etatistischem Antiliberalismus anstelle von „weder noch“ eher als „sowohl links als auch rechts“ zu bezeichnen. Die NZZ (2016) schrieb hierzu, man könne die Grundsätze des FN unter Marine Le Pen „ganz nüchtern betrachtet, ‚national-sozialistisch‘ nennen.“ Schließlich sollen von der linken Wirtschaftspolitik ausschließlich Französinnen und Franzosen profitieren.
Der wirtschaftspolitische Kurswechsel dient zur Inszenierung Marine Le Pens als Vertreterin jener Bevölkerungsteile, die sich als Verlierer der Globalisierung sehen. Daneben soll die thematische Diversifikation den FN von seinem Image als einwanderungsfeindliche Nischenpartei befreien und ihn als regierungsfähige politische Kraft glaubhaft machen. Zuletzt kann diese Strategie auch als Versuch gewertet werden, die xenophoben Positionen des FN vermeintlich ökonomisch zu „belegen“ und somit weiter vom Stigma des Rassismus zu befreien.
Verstärkter Euroskeptizismus
Wenngleich die Ideologie des Front National in zahlreichen Bereichen zumindest oberflächlich betrachtet eine Mäßigung erfuhr und dadurch verstärkt die politische Mitte erreicht werden soll, ist in Bezug auf die europapolitischen Positionen das Gegenteil der Fall. Während der FN seit Ende der 1980er-Jahre Kritik an der EU übte und die Zahl der ablehnenden Äußerungen schon seit den frühen 2000er-Jahren anstieg, so ist eine drastische Intensivierung des Euroskeptizismus unter Marine Le Pen zu beobachten: Die neue Parteivorsitzende stellt die Union in einem noch aggressiveren Duktus als Bedrohung der französischen Souveränität dar als ihr Vater und bezeichnet sie unter anderem als eine der Sowjetunion ähnelnde, weltweite Anomalie.
Der Euroskeptizismus soll auch parteiinterner Kritik an einem zu moderaten Kurs begegnen
Die Verschärfung der europapolitischen Äußerungen kann zum einen als Versuch interpretiert werden, parteiinterner Kritik an einem zu moderaten Kurs zu begegnen und die innere Geschlossenheit des FN zu erhalten. Daneben handelt es sich auch aber auch um eine Strategie der Distinktion von den anderen Parteien, welche in einigen Fällen ebenfalls auf Distanz zur Idee einer „ever closer union“ gingen. Hinzu kommt, dass die EU spätestens seit 2010 im Rahmen der europäischen Finanz- und Wirtschaftskrise sowie der Flüchtlingskrise eine größere Angriffsfläche bietet und Ängste der Wählerinnen und Wähler besser instrumentalisiert werden können.
Bemerkenswert ist jedoch auch in diesem Politikfeld die hohe Wandlungsfähigkeit des FN: Nachdem im Zuge des Brexit-Votums die Stimmung in Frankreich pro-europäischer wurde, spricht sich Marine Le Pen jüngst weit weniger eindeutig für den Austritt des Landes aus dem Euro bzw. der EU aus. In einer TV-Debatte mit ihren Kontrahenten sprach sie die in ihrem Wahlprogramm enthaltene Forderung nach einem „Frexit“-Referendum lediglich kurz im Abschlussstatement an; ein möglicher Austritt Frankreichs aus dem Euroraum – zuvor eine der Kernforderungen des FN – blieb gänzlich unerwähnt.
Fazit
Marine Le Pen konnte nicht nur die stärker werdende Politisierung europapolitischer Themen für sich nutzen, sondern auch die größere Skepsis gegenüber Muslimen sowie die wachsenden Ängste vor den Auswirkungen der Globalisierung. Durch die Verbindung der verschiedenen Themen miteinander kreiert der FN schließlich ein offenbar von vielen als kohärent empfundenes Weltbild. Während sich die Stammwählerschaft durch die Beibehaltung radikaler Standpunkte in identitären sowie kulturellen Fragen weiter vom FN angesprochen fühlt und sich hinsichtlich Abtreibungsgesetz und gleichgeschlechtlicher Ehe insbesondere durch den rechten Parteiflügel um die Nichte Marine Le Pens, Marion Maréchal-Le Pen, vertreten sieht, ermöglicht ein diskursiver Linksruck in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen die Ausweitung und soziodemographische Diversifizierung des Elektorats. Dies wird dadurch unterstützt, dass Marine Le Pen die diskriminierende Ideologie der Partei in einen gemäßigteren Diskurs verpackt, den Antisemitismus ihres Vaters durch islamophobe Äußerungen ersetzt und diese um unerfüllbare populistische Versprechen ergänzt. Die Versuche, verschiedene Teile der Wählerschaft gleichzeitig anzusprechen, führen durchaus zu innerparteilichen Spannungen und Diskussionen um die inhaltliche Ausrichtung des FN.
Zum Erfolg des Strategiewechsels trägt auch die Tatsache bei, dass die französischen Medien das Narrativ einer Neuausrichtung oft willig aufnehmen: Die Unterschiede zwischen der neuen Parteivorsitzenden und ihrem Vater werden von vielen Journalisten unverhältnismäßig stark betont. Dieses Narrativ zweier fast schon antithetischer Personen wird noch heute von zahlreichen FN-Wählern als Rechtfertigung für ihre Wahlentscheidung genutzt. Die Glaubwürdigkeit Marine Le Pens, die sie durch die rhetorische Abgrenzung von einer angeblich korrupten Elite zu steigern versucht, scheint auch angesichts der zahlreichen Parteiskandale (wie jüngst dem Vorwurf der Scheinbeschäftigung gegen eine enge Mitarbeiterin) von ihren Wählerinnen und Wählern nicht in Zweifel gezogen zu werden.
Marine Le Pen gelang es, den Eindruck einer Entdiabolisierung der von ihrem Vater aufgebauten Partei zu erwecken, die Parteiideologie zeitgemäßer zu gestalten und somit das französische Zwei- in ein Dreiparteiensystem zu verwandeln. Auch wenn der Partei aufgrund ihrer ausgeschlossenen Position im französischen Parteiensystem sowie aufgrund des französischen Mehrheitswahlsystems der Zugang zu formaler Macht bisher weitgehend verwehrt blieb, so vermochte es der FN dennoch, die Politik der Regierung zu beeinflussen. Ein Beispiel ist der Versuch François Hollandes, verurteilten Terroristen den französischen Pass zu entziehen – dies war ursprünglich eine Forderung der Rechtspopulisten. Somit ist der Erfolg des Front National zugleich Symptom und Ursache der inneren Zerrissenheit der französischen Gesellschaft.
Aurora Bergmaier ist Masterstudentin der Politikwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München und daneben als wissenschaftliche Hilfskraft in einem DFG-geförderten Forschungsprojekt sowie für einen Abgeordneten des Bayerischen Landtags tätig. Zuvor war sie für Das Progressive Zentrum tätig.
Literatur
Alduy, Cécile/Wahnich, Stéphane (2015): Marine Le Pen prise aux mots. Décryptage du nouveau discours frontiste, Paris: Seuil.
Brink, Lina (2017): Frauenrechte als Scheinlegitimation für Islamfeindlichkeit, in: Liberté, Égalité, Élysée, URL: https://
Camus, Jean-Yves (2014): Der Front National (FN) – eine rechtsradikale Partei? In: Internationale Politikanalyse, URL: http://library.fes.de/
Dézé, Alexandre (2015): Le „nouveau“ Front National en question, Paris: Éditions Fondation Jean Jaurès.
Goldhammer, Arthur (2015): Explaining the Rise of the Front National. Political Rhetoric or Cultural Insecurity? In: French Politics, Culture, & Society 33 (22), 145-147.
NZZ (2016): Marine Le Pens Front national vereinigt die Extreme. National und sozialistisch. URL: https://www.nzz.ch/feuill
Politico (2017): Marine Le Pen, no longer enemy of the euro, URL: http://www.politico.eu/ar
Reungoat, Emmanuelle (2015): Mobilizing Europe in national competition: The case of the French Front National, in: International Political Science Review 36 (3), 296-310.