Frankreich am Scheideweg? Ein Präsidentschaftswahlkampf zwischen Unvorhersehbarkeit und Europakritik

Carmen Gerstenmeyer, IEP Berlin

Elf Präsidentschaftskandidaten und -kandidatinnen stellen sich im ersten Wahlgang am 23. April 2017 insgesamt 47 Millionen wahlberechtigten Franzosen. Diese nüchternen Rahmenbedingungen lassen kaum vermuten, welche Bedeutung das Wahlergebnis für Frankreich und ganz Europa hat. Bei der Stichwahl am 7. Mai könnten nämlich erstmals in der Geschichte der Fünften Republik die Vertreter beider Volksparteien nicht vertreten sein. Als aussichtsreichste Anwärter[1] auf den Einzug in den Elysée-Palast gelten derzeit Marine Le Pen, Parteichefin des rechtsextremen und europafeindlichen Front National (FN), sowie Emmanuel Macron, progressiv-liberaler Shootingstar, ehemaliger Wirtschaftsminister und Begründer der überparteilichen Bewegung En Marche! (etwa: Vorwärts!). Für den FN, der bisher nur 2002 als Außenseiter die Stichwahl erreichte und so den Ausdruck „21 avril“[2] im kollektiven Gedächtnis etablierte, könnten die diesjährigen Wahlen der bisherige Höhepunkt eines stetigen Aufwärtstrends seit 2011 sein.

In diesem Jahr zeigen sich einschneidende Unterschiede zu vorherigen Wahlen: Seit Gründung der Fünften Republik 1958 stellten entweder Sozialisten (heute: Parti Socialiste) oder gemäßigte Konservative (heute: Les Républicains) den Präsidenten. 2017 ist die politische Ausgangslage weniger vorhersehbar: Einerseits befinden sich die Sozialisten mit Kandidat Benoît Hamon aufgrund der Unbeliebtheit des derzeitigen Amtsinhabers François Hollande in einer existentiellen Krise; andererseits ist das Ansehen des konservativen Kandidaten und ehemaligen Favoriten François Fillon durch diverse Skandale schwer angeschlagen. Hinzu kommt Jean-Luc Mélenchon, Gründer der linken Bewegung La France insoumise (dt. aufsässiges Frankreich), der dem Sozialisten Hamon zunehmend Wählerstimmen streitig macht.

Somit kristallisierte sich in den letzten Wochen immer mehr ein potentielles Duell zwischen Le Pen und Macron heraus: Auf der einen Seite eine nationalistische Hardlinerin, die den Front National seit Übernahme des Parteivorsitzes 2011 für große Wählergruppen salonfähig und wählbar gemacht hat; auf der anderen Seite ihr Herausforderer, ein junger und in vielerlei Hinsicht durchaus unkonventioneller Emmanuel Macron, dessen Sammelbewegung gerade einmal ein Jahr alt ist und sich – für Frankreich sehr untypisch – weder rechts noch links im Parteienspektrum verortet.

Politische Ausgangslage und Nachfragefaktoren in Frankreich:
Unsicherheit und gezielter Populismus

In den vergangenen zwei Jahren war der gesellschaftliche Diskurs durch die fortschreitende Globalisierung, die europäische Flüchtlingskrise und nicht zuletzt durch grausame Terroranschläge zunehmend von Angst und Unsicherheit geprägt. Eurobarometer-Umfragen von November 2016 zeichnen ein mehrheitlich pessimistisches Bild der französischen Gesellschaft, deren Hauptsorgen die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit von knapp 10%, eine diffuse Bedrohung durch den internationalen Terrorismus, Folgen von Immigration sowie die wirtschaftliche Lage des Landes ist. Dies weiß der Front National durch einen geschickt abgestimmten Diskurs zu nutzen und trägt zur weiteren Spaltung der Gesellschaft bei. Hinzu kommt eine im europaweiten Vergleich überdurchschnittlich ausgeprägte Politikverdrossenheit, insbesondere gegenüber nationalen Politikern. Diese bieten in den Augen vieler Befragter keine überzeugenden Lösungen für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts an, sodass die EU trotz häufig geäußerter französischer Kritik mit immerhin 35% mehr Vertrauen als nationale Institutionen genießt (Regierung 21%, Parlament 26%).[3] Politische und persönliche Skandale aktueller oder ehemaliger politischer Amtsträger sind in Frankreich ebenfalls keine Seltenheit, wovon wiederum der Front National und andere kleinere Anti-System-Parteien profitieren.

Europaskeptizismus hat in Frankreich Tradition

Ein Blick auf die Geschichte Frankreichs, immerhin Gründungsmitglied der EGKS und langjähriger Partner Deutschlands in Europa, gewährt Einsicht in die durchaus ambivalenten Beziehungen des Landes zur EU: Ablehnung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, Politik des leeren Stuhls[4], Widerstand gegen einen EU-Beitritt Großbritanniens, knappe Ratifizierung des Maastricht-Vertrags, Ablehnung einer Europäischen Verfassung und schließlich der Erfolg des europhoben Front National bei den letzten Europawahlen, welcher seitdem die meisten französischen Europaparlamentarier stellt.

Es zeigt sich, dass der Front National weder Verursacher noch Hauptverantwortlicher des französischen Europaskeptizismus ist, die latent vorherrschende Kritik allerdings geschickt zu nutzen weiß. Französischer Europaskeptizismus hat weitaus komplexere soziokulturelle, wirtschaftliche und politische Gründe. Nicht unerheblich vor dem Hintergrund der Eurokrise ist die Angst vor einer Verschlechterung der nationalen und persönlichen Situation („déclin“) und der Verlust nationaler Selbstbestimmung, in den Augen Vieler ausgelöst durch Globalisierung und europäische Integration. Jeder zweite Franzose schreibt der Globalisierung negative nationale Auswirkungen zu,  auf persönlicher Ebene wird dieser Eindruck leicht relativiert.[5] Mit der EU verbinden hingegen zwei Drittel der Bevölkerung neutrale oder positive Assoziationen, was eine kritische, aber nicht grundlegend ablehnende Haltung der französischen Bürgerinnen und Bürger gegenüber der europäischen Idee unterstreicht.

Europathemen im Wahlkampf – mehr als ein Spagat zwischen Angebot und Nachfrage

Angesichts dieser komplexen Ausgangslage verwundert es kaum, dass klare Bekenntnisse zu Europa und deutsch-französischer Kooperation im aktuellen Wahlkampf rar sind. Selten waren Europathemen so präsent bei französischen Präsidentschaftswahlen, selten das Bild der EU derart negativ. Bereits während der letzten Präsidentschaftswahl 2012 etablierte sich die europäische Integration als Konfliktlinie zwischen gemäßigten und radikalen Parteien sowie zwischen gesellschaftlichen Gewinnern und Verlierern dieses Prozesses. Dies setzt sich auch 2016 fort, indem die Präsidentschaftskandidaten das gesamte Themenspektrum von pro- bis antieuropäisch abdecken.

Pro-Europäer….

Aussichtsreichster pro-europäischer Kandidat und Favorit der Auslandsfranzosen ist Emmanuel Macron. Er wirbt mit einem weltoffenen Programm, unterstreicht die Bedeutung Europas für Frankreich und plant eine Erneuerung der deutsch-französischen Kooperation. Macrons Programm verfolgt ein Europa der zwei Geschwindigkeiten: mehr verteidigungspolitische intergouvernementale Zusammenarbeit zwischen Deutschland, Frankreich und weiteren kooperationswilligen Staaten im Rahmen der GSVP, die Einrichtung eines Verteidigungsetats für gemeinsame Militärausrüstung sowie effizientere europaweite Zusammenarbeit von Polizei und Justiz. Geplant sind ebenfalls weitere Integrationsschritte im Rahmen der Währungsunion, insbesondere durch ein eigenes Parlament und ein gemeinsames Budget der Eurozone sowie die Schaffung eines europäischen Finanzministers – eine Idee, die in der Vergangenheit bereits auf bilateraler deutsch-französischer wie auch europäischer Ebene wiederholt geäußert wurde. Macron versäumt dabei auch nicht, seine Wähler an überfällige Wirtschaftsreformen zu erinnern, um die Sparauflagen im Rahmen der EU-Konvergenzkriterien zu erfüllen und die Glaubwürdigkeit Frankreichs zu stärken.

…gegen Anti-Europäer

Diametral gegenüberstehend positioniert sich Marine Le Pen, welche mit ihrem revisionistisch-protektionistischen Programm die Beziehungen Frankreichs zur EU grundlegend reformieren möchte. Neuverhandlung der Europäischen Verträge, Austritt aus der Eurozone und Wiedereinführung des Franc, Referendum über einen Verbleib des Landes in der EU, Austritt aus der gemeinsamen Agrarpolitik sowie dem Schengener Abkommen zum Schutz vor Terroristen – Le Pen gibt an, Frankreichs nationale Souveränität wiederherstellen zu wollen und will sich dazu vom „Brüsseler Diktat“ befreien. Juristisch wie politisch sind ihre Forderungen für ein EU-Mitglied jedoch kaum umsetzbar und für das geplante „Frexit“-Referendum müsste zuerst die französische Verfassung geändert werden. Angesichts zahlreicher Bedrohungen und Unsicherheiten auf politischer, wirtschaftlicher und kultureller Ebene hat die strategische Mischung aus Europaskeptizismus, dem Schüren von Ängsten und effizienter Kommunikation der Kandidatin („Ich werde nicht Merkels Vize-Kanzlerin!“) beim französischen Volk durchaus Erfolg, wie die seit Wochen konstanten Umfragewerte von ca. 25 % und die solideste Wählerbasis aller Kandidaten belegen.

Ebenfalls euroskeptisch liest sich das Programm von Jean-Luc Mélenchon am linken Rand des Kandidatenspektrums: Austritt aus dem Stabilitätspakt und sonstigen europäischen Defizit-Auflagen, Abschaffung des Freihandelsabkommens CETA sowie eine Abwertung des Euro. Mélenchon kritisiert die als zu liberal empfundene Wirtschaftspolitik der EU und bemängelt fehlende soziale Gerechtigkeit, welche für die aktuelle Wirtschaftslage Frankreichs verantwortlich sei. Bei einem Scheitern seiner Reformvorschläge droht Mélenchon mit der Aussetzung französischer Budgetzahlungen an die EU, was de facto einem EU-Austritt gleichkäme. Neben Mélenchon und Le Pen stehen noch drei andere europaskeptische Kandidaten zur Wahl, die im weiteren Wahlverlauf jedoch voraussichtlich keine Rolle mehr spielen werden.

Auch Volksparteien können kaum noch für Europa begeistern        

Der konservative Kandidat François Fillon betont zwar ausdrücklich die Wichtigkeit des „deutsch-französischen Motors“, spricht sich davon abgesehen jedoch für ein starkes Frankreich in einem Europa der Nationen und eine vertiefte intergouvernementale Zusammenarbeit in der EU aus. Durch regelmäßige Eurogipfel, einen europäischen Währungsfonds sowie ein Generalsekretariat zur wirtschaftspolitischen Koordinierung möchte er die Verwaltung der Eurozone stärken und gemeinsam mit Deutschland eine EU-weite Steuerharmonisierung für Unternehmen erreichen. Ähnlich wie sein Vorgänger Nicolas Sarkozy im Jahr 2012 wirbt Fillon ebenfalls mit traditionell konservativen Themen und bedient so die Nachfrage der Bevölkerung: konsequenterer EU-Außengrenzschutz, Reformierung des Schengener Abkommens, sofortige Abschiebung krimineller Ausländer sowie eine Erhöhung des Verteidigungsetats der EU-Mitgliedstaaten.

Der Sozialist Benoît Hamon hingegen ist ein klarer Befürworter Europas und stellt trotz zahlreicher Reformvorschläge nicht zentrale europäische Beschlüsse infrage. Er setzt u. a. auf die Abkehr von europäischen Sparmaßnahmen, die Sicherung sozialer europäischer Mindeststandards, umfassende Investitionen in Wirtschaft und Nachhaltigkeit, ein Parlament der Eurozone sowie mehr Zusammenarbeit bei den Themen Verteidigung und grenzüberschreitender Datenaustausch. Angesichts mittlerweile einstelliger Umfragewerte sind seine Erfolgsaussichten am 23. April jedoch gering.

Was folgt nach dem 7. Mai?

Insgesamt unterscheiden sich die Europaprogramme der Kandidaten und Kandidatinnen maßgeblich in der Frage nach mehr oder weniger Integration und beinhalten auch Positionen wie eine gänzliche Abkehr von der EU. Sofern diese nationalem oder europäischen Recht genügen, wird ihre Umsetzbarkeit sowohl vom Ausgang der Parlamentswahl im Juni als auch von der Kooperationsbereitschaft der europäischen Partner abhängen. Aus deutscher Sicht ist das Wahlergebnis am 7. Mai auch im Hinblick auf die bevorstehenden Bundestagswahlen von besonderer Bedeutung, da nach dem Brexit, der Wahl Trumps und sonstigen nationalen Bestrebungen und außenpolitischen Krisen ein solider europäischer Kooperationspartner umso wichtiger ist. Jedoch wird selbst bei einem Wahlsieg Macrons – ähnlich wie in den Niederlanden – der aktuelle europaskeptizistische Trend nicht umgekehrt. Das künftige französische Staatsoberhaupt steht daher auch in der Verantwortung, eine rationale Debatte über Europa in Frankreich anzustoßen und gemeinsam mit den nationalen Vertretungen von EU-Kommission und -Parlament sowie Akteuren der Zivilgesellschaft zwischen Brüssel und dem französischen Volk zu vermitteln. 60 Jahre nach Unterzeichnung der Römischen Verträge sind Umfragen, laut derer sich mehr als jeder zweite französische Bürger schlecht über die Europäische Union informiert fühlt, mehr als alarmierend.

Carmen Gerstenmeyer hat European Affairs und Politikwissenschaft an Sciences Po Paris und der Freien Universität Berlin studiert und als studentische Hilfskraft am Forschungsprojekt „TruLies – The Truth about Lies on Europe“ am Institut für Europäische Politik e.V. mitgewirkt.


[1] Opinionway 2017: Opinionlab. Online: http://opinionlab.opinion-way.com/opinionlab/832/627/presitrack.html (Stand 26.04.17)

[2] Die Stichwahl fand am Sonntag, den 21. April 2002 statt.

[3] Standard Eurobarometer 86, Herbst 2016. Factsheet Frankreich.       http://ec.europa.eu/COMMFrontOffice/publicopinion/index.cfm/Survey/getSurveyDetail/instruments/STANDARD/surveyKy/2137 (Stand 06.04.2017).

[4] Die Politik des leeren Stuhl bezeichnet das Fernbleiben Frankreichs von Sitzungen des Ministarrats zwischen Juli 1965 und Januar 1966. Auslöser waren Reformpläne zur Finanzierung von Gemeinschaftsaufgaben und Mehrheitsentscheidungen in der gemeinsamen Agrarpolitik. Diese Blockadehaltung machte die damalige EWG de facto entscheidungsunfähig und führte zu einer politischen Krise.

[5] DEMOS: “Mapping and responding to the rising culture and politics of fear in the European Union…” – Nothing to fear but fear itself? Projektbericht: https://www.demos.co.uk/wp-content/uploads/2017/02/Nothing-to-Fear-but-Fear-Itelf-final.pdf (Stand 06.04.2017).